Es wäre ja nicht so, dass ich keine guten Ideen hätte. Natürlich, ich renne häufig 40.000 Kilometer überstürzt in die falsche Richtung.
Und trotzdem komme ich am Ende richtig raus. Keine Hektik also, die guten Ideen kommen. In der Früh, bei viel Kaffee und Morgenkälte. Oder als geistige Segnung, als wachküssende Bewusstseinsoffenbarung am Bahnsteig, vor der Espressomaschine oder an der Kasse von Aldi-Süd, wenn ich in verträumte Augen blicke. Oder wenn ich auf der Toilette sitze. Aus bisher unerfindlichen Gründen habe ich dort zumeist die besten Ideen. Leider klingelt das Telefon häufig immer dann. Ich weiß nicht, gibt es irgendwo ein Gesetz in dem festgeschrieben steht, dass wichtige Anrufe einen dann erreichen, wenn man dringend seine Notdurft verrichten muss? Zur Zeit ist das so eine Sache mit den guten Ideen, lassen sie sich doch recht bitten und erstarren nur höchst widerwillig in einer vernünftigen Form auf Papier. Oder auf dem Bildschirm, je nachdem. Da geht nichts und wenn die Visionen sich hinter der Hecke verstecken und du schön brav angeschnallt bleibst, dann kommt dabei einfach nix rum.
Gestern wurde ich kurz panisch, dachte ich doch nach zwölf Minuten frustrierter Tastaturhackerei ohne sichtliches Ergebnis, ich hätte es verloren; die Macht, das Können, das linguistische Geschick; nichts mehr übrig davon, nur ein ausgeblasenes Höhlenfeuer in der Grotte lyrisch verwegener Sprachromantik. Verloren glaubte ich die Schreibkunst, irgendwo im Anglizismen-Sumpf meiner neuen Kollegen zwischen combinen, Charity-Events, future-Denken, Chart-Flows und Work-Life Balance. Wie gesagt, zwölf Minuten in Panik waren das. Dann stand ich auf und ging.
Gefasst, vielleicht ein wenig bockig schob ich Stift und Tastatur beiseite und trat kurz vor die Tür. Gehirn lüften, das hilft manchmal. Manchmal hilft auch ein Glas Whiskey mit zwei klimpernden Eiswürfeln. Allerdings schien mir das gerade nicht sonderlich angebracht. Es gibt solche Tage, an denen man das Leben fühlt, wie es so dahin plätschert, so erschreckend gewöhnlich, so still und unbemerkt vergeht und direkt unter einem zerfließt. Eigentlich hast du doch noch gar nichts gesehen. Und eigentlich fühlst du dich noch gar nicht soweit, mit dieser Tatsache, dieser abrupten Erkenntnis Freundschaft zu schließen. Das sind diese drögen Tage der Hysterie, weil du nur den Alltag hast und nichts, und nichts als Alltag.
Wohin es geht, will ich wissen. Und ich will es jetzt wissen. Wohin es geht, mit mir und uns und der Welt. Wohin es geht, will ich wissen, mit der Liebe und dem Frieden und dem ganzen anderen tollen Kram, dieser verrückten Phantasterei auf dem Planeten. Wohin es geht. 2005, ein Jahr und noch ein Jahr und noch ein Jahr – ein Jahr noch. Wohin es geht, mit dem Heiland und den 1300 Kubikzentimeter Bewußtsein in meinem Kopf. Alles zu groß geratene Gedanken für heute, ich leg sie flach und lass sie links liegen. Fürs erste zumindest, meine tägliche Ration kompletten Irrsinns bekomme ich erst noch. Und mein kleines privates Fegefeuer fängt erst gerade an, richtig ungemütlich zu werden.
Vielleicht sollte ich eine Runde spazieren gehen. Raus, gehen, einfach nur gehen, nicht denken und weg, dorthin, wo einen die Füße tragen. Gute Idee, beim Spazierengehen bleiben meine Dämonen zumindest zwischenzeitlich zuhause. Also trete ich heraus und schließe die Türe hinter mir. Waldspaziergänge sind für mich wie Urlaub, da vergesse ich sogar, dass sie zuhause auf mich warten, all die Geister zu großer, ständig aufgeworfener Überlegungen und kurzfristiger Verirrungen. Ich liebe den Wald und stehe gerne im Wald. Wälder haben etwas erhabenes.
1000 Schritte bis hierher, 1000 Schritte und noch weiter. Auf einer Lichtung stehen neben mir mehrere Futterkrippen. Das hier ist für das Wild so etwas wie für uns ein Drive-In. Im Winter ist mortzmäßig was los. Der Wald selbst sieht schütter und kahl aus, erst letztes Jahr wurden breite Schneisen geschlagen. Drück einem Schizophrenen einen Langhaarschneider in die Hand und er würde dir eine Frisur ganz in diesem Stil verpassen.
Mein weiterer Weg durch das friedvolle Freigehege führt mich an einer Bundesstraße vorbei. Früher stand ich oft dort und sah die groben glattgeschliffenen Steine im Asphalt und fühlte den drückenden Wind der vorbeibrausenden Autos. Ich blickte bis zum Horizont, so weit man diese schnurgerade Straße mit dem Auge ausmachen konnte und fragte mich, wohin dieser Weg führt und welche Orte man von hier aus alles erreichen würde. Heute weiß ich, dass alle Wege und Straßen dieser Welt nirgends hinführen, ausser zu einem selbst. Richtig schlau wurde ich aus dieser Erkenntnis scheinbar nie, denn auch heute will ich immer noch nichts anderes als weg.
Eigentlich sind wir doch alle ständig unterwegs, wollen alle irgendwie irgendwohin. Keinen Plan in der Tasche und was uns in die Ferne zieht, bleibt fortwährend schleierhaft. Wir wissen nicht wohin, aber wir reiten weiter. Neuzeitnomaden auf der Schwelle ständiger Selbstfindung, die nur ausziehen, um wieder zu sich selbst zurückzukehren. Meine Pläne für dieses Jahr fallen da eher bescheiden aus. Im September geht es zurück an die Schule, Abitur nachholen, sofern ich für diesen Kurs noch einen Platz zugeteilt bekomme. Ich hab da nämlich mit meiner Vergangenheit noch etwas klarzustellen.