Der Scheiss mit der gekippten Erdachse

Photo by Marielle Amelie

23.11.17, Donnerstag

„Metakognition. Das ist interessant, dass sie das machen. Passiert ihnen das nur hier?“ Frau R. liefert heute bereits sehr früh mein Wort des Tages. Nach der Therapie sitze ich in Pasing, Café Brioche Dorée mit Cappuccino und Croissant und mit Stift und Papier an einem kippeligen Tisch, auf einem kippeligen Stuhl. Selbst das Tablett, auf dem der Kaffee und das Gebäck steht kippelt. Frühe Instabilität. Frau R. und ich haben uns darauf geeinigt, unsere Gespräche nur noch alle drei Wochen stattfinden zu lassen. Ich sitze draussen, es ist windstill und kalt. Die müde Novembersonne steht tief, sie wirft gnädig noch ein paar Strahlen herunter, bevor sie sich gleich hinter dem nächsten hohen Gebäude verstecken wird. Zwischen Therapie und Arbeit habe ich zwei Stunden Zeit für mich.

Metakognition, das heißt, während des wahrnehmen und ausdrücken eines Gedanken eine bereits im Prozess des Ausdrucks wertende oder kritisierende oder analysierende oder wie auch immer tendierende Position zu dem Gesagten einzunehmen, in meinem Fall. Also eigentlich ist das ein Teil des Jobs, den meine Therapeutin macht, nur, dass ich ihr heute vorgriff und die Analyse des eben gesagten gleich mitlieferte. Ziemlich verworrene Angelegenheit, die ganz locker eine ordentliche Gedankenverschachtelung hervorrufen kann. Hatte aber Spaß dabei.

Uns wird Winter. Die Tage werden kürzer und weniger hell, wofür man primär niemanden wirklich verantwortlich machen kann, das liegt halt an der scheiß gekippten Erdachse, nur 23,4 Grad, das ist nicht viel, kann aber für einen überdurchschnittlichen Grübler den ein oder anderen Klapser aufs Gemüt bedeuten. Wenn man weiß, wie die Sache läuft, hält man den Kopf hoch, nutzt jede Gelegenheit, um an Sonnenlicht ranzukommen und nimmt die Dinge nicht allzu ernst. Das funktioniert ganz gut. Aber jetzt kappt ein zehnstöckiges Betonhochhaus, das absolut nicht mit sich reden lässt die Verbindung zwischen mir und dem Fixstern unseres Sonnensystems. So dreht sich’s, denke ich mir und die Kälte lässt meine Finger krampfen. Wieder auf der Suche nach einem neuen, ruhigen Platz zum Schreiben.

Und wieder der unsägliche food court in den Pasing Arcaden. Wieder ein wackeliger Tisch – es gibt einfach verdammt noch mal zu viele wackelige Tische auf dieser Welt – der mit jedem Druck des Stiftes auf das Papier nachgibt. Dafür ist es hier drinnen warm und die Sitze sind mit Kunstleder gepolstert. Der Dampf von Fischsauce aus dem Wok des Asiaten hinter mir mischt sich mit dem Stimmenwirrwarr. Fischsauce und Stimmenwirrwarr wabern unbeeindruckt voneinander durch die Luft.

Die vorangegangene Nacht war ohne Wolken, klar und still und voller Sterne. Das bedeutet, dass die Kälte des Alls ungehindert auf die Erde fällt und mich am Morgen summa summarum dazu zwingt, den Eiskratzer rauszuholen und die in Form von Frost niedergeschlagene Kälte des Weltalls von der Windschutzscheibe des Autos zu kratzen. Als die Sonne dann aufgeht erwachen die Dinge nur langsam. Zäh und ruckartig setzt sich eine Novemberwelt in Bewegung, die die Sehnsucht an den Sommer noch nicht ganz überwunden hat.

Frühes warten am Bahnhof. Aus den Mündern und Nasenöffnungen der Mitwartenden, die in kleinen Atemwölkchen kondensierte Luft aus deren Lungen. Stoßweises Ausatmen der Seelen, so scheint es mir. Es ist neun Uhr und um diese Uhrzeit stehen zwei Verbindungen in die Stadt zur Verfügung. Erstens, der Regionalzug um zehn nach neun, der ohne Halt bis Pasing und dann, ebenfalls ohne Halt bis zum Münchner Hauptbahnhof durchfährt und nur von denjenigen genommen wird, die a) nicht an einer der Zwischenstationen aussteigen und b) schnell in der Innenstadt sein müssen. Was, wie wir gleich sehen werden, auf so ziemlich alle Wartenden zutrifft. Dementsprechend garantiert ist kein Sitzplatz im Regio für die halbstündige Fahrt. Zweitens, die S-Bahn, die vier Minuten nach dem Regionalzug losfährt, vollkommen nachvollziehbar ein paar Minuten später in der Innenstadt ankommt und von Leuten genommen wird, denen Zeit nicht so, ein Sitzplatz dagegen sehr wichtig ist. Und die vielleicht an einer der Zwischenstationen aussteigen müssen. Als der Regionalzug einfährt entscheiden sich achtundneunzig Prozent der Wartenden für die Option „dicht gedrängt und dafür ein paar Minuten früher in der Stadt“. Sie pressen sich gegenseitig in den eh schon vollen Zug, was ironischerweise eine Verzögerung bei der Abfahrt bewirkt, während ich mich spontan umdrehe und in die wartende S-Bahn steige, Fenster- und Sitzplatz garantiert.

Seit vier Tagen lasse ich mein iPhone und mein Tablet den gesamten Vormittag über unangetastet. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich verurteile diese Technik nicht generell aber diese Geräte fordern mich dazu auf zu reagieren, anstatt selbst zu agieren, womit ich mir auf Dauer eine feinsäuberliche Armut an Aufmerksamkeit antrainiere, so viel steht fest. Also ändere ich das. Seitdem komme ich verhältnismäßig aufgeräumt und ruhig in der Stadt an. Als Nebeneffekt bemerke ich, wie gut es mir tut, wenn ich mich nur auf eine Sache konzentrieren kann. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Und wenn ich mit meinem Kind spiele und quatsch mache, dann spiele ich mit meinem Kind und mache quatsch. So einfach ist das. Das sind ganz simple Prinzipien. Ich mag das.

Auf dem Mülleimer in der S-Bahn hat jemand die Wörter PRESCHEN und FAM.HATE eingeritzt. Denke nach, ob es sich lohnt darüber nachzudenken und ob das alles irgendwie eine Bedeutung hat. Dann ist der Moment vorbei.

Türkenfeld, Schöngeising – auf dem Abschnitt der Strecke kann man einen phänomenalen Ausblick über das gesamte Voralpenland genießen. Ein Aspekt, über den mich alle Pendler, die sich kollektiv mit dem Auto jeden Morgen in Stadt reinstauen beneiden könnten, wenn sie davon wüssten. Eine sanfte, wellige Hügellandschaft, die in der Ferne in Dunst übergeht und nur begrenzt wird von immerwährenden Bergen im Hintergrund, die manchmal wie der gezackte Rücken eines Drachens, manchmal wie die Abrisskante des Horizonts erscheinen, manchmal mit klarer und scharfkantiger Silhouette, dann wieder verhüllt von Wolken, die wie langsame Riesen übers Land marschieren. Auch wenn man die Berge manchmal nicht sehen kann weiß man, dass sie immer da sind und irgendwie beruhigt mich dieser Gedanke.

Auf den Parkplätzen an den jeweiligen Haltestellen stehen viele Autos, was absolut nicht anders zu erwarten ist. Die hinteren Fensterscheiben mancher Großraumkombis sind mit Tapser und Schlieren verschmiert, was ich als eindeutigen Hinweis auf Hunde- oder Kinderbesitzer, im Zweifel beides werte.

Je weniger Stationen es bis zur Stadtgrenze werden, desto größer wird der Menschenstrom. Verfügbare Internetbandbreite und Menschendichte verlaufen wie ein Gradient. An der Haltestelle Schöngeising hält die Bahn an exakt der selben Stelle oder ich sitze an exakt der selben Stelle oder beides kommt in dieser eigenartigen Laune unseres Universums, für das es so berühmt ist zusammen, an der die Bahn auch gestern hielt. Wie ich das mit der Überschneidung Arsch auf Sitzplatz und Bahn an Haltepunkt feststelle? Ich blicke aus dem Fenster nach unten und dort, neben dem Gleisbett sehe ich ein verlassenes Weinbergschneckenhaus, das ich gestern mit exakt der selben Kopfbewegung nach unten an exakt der selben Stelle schon sehen konnte. Heute jedoch ist der weiße Kalk mit frostigem Glitzer überzogen, das ist der einzige Unterschied. Und natürlich ist rein rechnerisch etwas Zeit seit der gestrigen Weinbergschneckenhausbeobachtung vergangen, wenn man an so etwas wie Zeit glauben mag. Manchmal kann jeder Tag aufs erschütterndste neu und anders und unerwartbar sein. Und manchmal wiederholen sich die feinen und filigranen Dinge in höflicher, aber irgendwie irritierender Regelmäßigkeit.

Es wird voll in der Bahn. Die weiten Felder vor Aubing beginnen, mich mit ihrer inspirationslosen Monokulturverbortheit zu langweilen. Langsam zeichnen sich die Baukräne an den Randbezirken der Stadt ab, die sich Jahr für Jahr gierig ein Stück weiter in das Umland frisst.

Ich schließe die Augen und lausche unweigerlich den Unterhaltungen der Passagiere. Eine gesichtslose Stimme hinter mir philosophiert über Geschmacksrichtungen und ich denke einige Zeit über das Wort Geschmacksrichtungen nach, komme aber vorerst zu keinem vernünftigen Ergebnis, später dann schon. Ich denke an Dinge, die ich nicht weiß. Dinge, von denen ich keine Ahnung habe, wie z.B. den ordnungsgemäßen Einsatz des Semikolons. Was ich weiß: Viele Menschen, die eine Depression oder einen Selbstmordversuch überwunden haben, lassen sich einen Strichpunkt auf ihren Körper tätowieren, vorzugsweise auf das Handgelenk oder den Oberarm, einen besonderen Zusammenhang zu einer präferierten Körperstelle gibt es womöglich nicht. Insgesamt scheint dieses Tattoo ein Trend zu sein, auf jeden Fall ist es ein Statement. „Seht her, es gab da mal einen Umbruch in meinem Leben, so aus der Kategorie maximalkrasse Dinge und alles, was danach kam war absolut anders aber es gehört irgendwie noch zu dem, was davor passiert ist dazu.“ So erkläre ich mir das.

Die Abgeschlagenen des Pasinger Bahnhofs, die Druffis und Tankis, die Dopeheads und Junks gehen auf und ab, sammeln sich an Orten, von denen nur sie wissen, dass es ihre Orte sind. Das machen sie stundenlang, tagelang, wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens.

„Es gibt Dinge im Leben, die jagt man und man weiß, dass sie einen wahrscheinlich eines Tages umbringen werden. Träume, Sehnsüchte, Wahnvorstellungen, Visionen, nenn es wie du willst. Man rennt ihnen das gesamte Leben hinterher. Das ist der große weiße Wal: der Leviathan. Nur eine Idee, mein Kleiner, aber wahrhaftig, ein Mordsding. Jeder sollte einen ganz persönlichen Leviathan haben. Ist echt ne prima Sache. Das Ziel, ihn eines Tages doch noch zu erledigen hält uns am Leben. Ist es nicht das, was uns antreibt? Natürlich ist diese Angelegenheit ein insgesamt ziemlich ahabeskes Unterfangen, schon klar. Aber jeder braucht seinen persönlichen großen weißen Wal. Erst der gibt uns unsere Daseinsberechtigung. Was für einen Sinn würde das hier alles sonst überhaupt machen?“


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