Die 80er – Strahlende Zeiten für eine Kindheit

(Dies ist eine Antwort auf den Artikel „Der Tag, an dem ich die Bombe lieben lernte“ von Gerald Hensel.)

Meine Mutter war im vierten Monat mit mir schwanger, als es zum NATO-Doppelbeschluß kam. Ich war drei, als der kalte Krieg 1983 so überhaupt nicht mehr kalt sein wollte und die Zivilisation eine Minute vor der thermonuklearen Vernichtung stand. Meine Mutter bekam damals nicht viel von der angespannten politischen Großwetterlage mit. Es gab eine Familie, die ernährt werden musste. Und es gab kein Twitter. Auch ich habe das, was Gerald Hensel in dem Artikel erwähnt als Kind nicht bewusst wahrgenommen. Und dennoch hat es meine Sprache geprägt, meine Wahrnehmung und mein Denken.

Wie sehr die drohende atomare Apokalypse der 80er Jahre, die unterschwellige Angst aus der Erwachsenenwelt in mein kindliches Hirn eingesickert ist, begriff ich erst Jahrzehnte später. Ich merke es, wenn ich diesen Artikel lese, angetrieben davon einen halben Tag im Internet verbringe, alles über den professionalisierten Irrsinn dieser Zeit des Wettrüstens recherchiere und diese Antwort schreibe. Da schnürt sich etwas in mir zu.


Was man nicht benennen kann, davor hat man Angst. Oder es existiert für einen einfach nicht. Deshalb fragen Kinder ständig. Viele meiner Begriffe und damit die Vorstellung von der Welt waren geprägt von den allgegenwärtigen Umwelt-Schreckensmeldungen der achtziger Jahre. Das war die erste echte Zäsur in meiner kindlichen Welt. Unsere Familie lebt in Süddeutschland und nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 waren von einem auf den anderen Tag Sandkästen plötzlich gefährlich. Die Pilze, die mein Vater sonst immer leidenschaftlich sammelte waren plötzlich gefährlich. Wildfleisch wurde weggeschmissen, weil: gefährlich. Ich begegnete das erste mal den Worten Entsorgung und Endlagerstätte. Und lernte, dass Strahlen nicht nur von der Sonne kommen und Dinge zum Blühen bringen.

Was machst du also als mittelmäßig verstörter Sechsjähriger? Richtig, du bastelst was. Aus einem kleinen Karton wurde das „Zukunftfenster“, eine Mischung aus Geisterbahn und dem real existierendem Hirnfick eines Kindes, das versucht, seiner Vorstellung von der Zukunft irgendwie Ausdruck zu verleihen.

Da gibt es diesen Überraschungseffekt. Schaut man durch die Folie des Fensters, sieht man zunächst nichts. Folgende Dinge sind zu sehen, wenn man den Deckel öffnet und Licht einfällt: radioaktiver Müll, eine Atombombenexplosion, ein beschädigtes Atomkraftwerk, ein Toter mit gespaltenem Schädel, ein „Menschen verboten!“-Schild, viel Rauch. „Willkommen in der Zukunft“. Das war meine Vorstellung davon. Vielen Dank auch.

Aber die Ereignisse dieser Zeit hatten noch weitere Vorstellungen von mir geprägt. Dass die Menschen z.B. verteilt auf mehreren Kontinenten leben habe ich wohl erst wirklich begriffen, als ich wissen wollte, was eine Interkontinentalrakete ist und was man damit machen könne. Dass Menschen auf verschiedenen Kontinenten leben verstand ich nun. Dass man Menschen, die man noch gar nicht kennt auf einem anderen Kontinent zu Staub und Asche zerbomben will, verstand ich nicht.

Oder den Begriff der Zone, den verstand ich als Kind auch nicht. Darum fuhren wir nach meiner damaligen Auffassung immer in die Ostsonne, anstatt in die Ostzone, wenn wir unsere Verwandten in der ehemaligen DDR besuchten. Ich kannte „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf“ usw., also erschien mir das logisch. Abends unterhielten sich die Erwachsenen im Wohnzimmer der engen Plattenbauwohnung nur mit gedämpfter Stimme über Politik. Warum in der Ostsonne, die in meiner Vorstellung hell und klar und gutriechend sein sollte überall der beißende Geruch von Braunkohle und Abgase von Zweitaktmotoren hing begriff ich wiederrum nicht.

„Unsere Gegenwart sind tote Flüsse, sterbende Wälder, verstrahlte Wiesen und vergiftetes Trinkwasser.“

Alles in allem ist dennoch ein okayer Mensch aus mir geworden. Ich sah den Animationsfilm Duck & Cover, den ich bereits als Kind albern fand. Dennoch faszinierte mich der trickfilmtechnische Umgang mit dem Szenario der totalen Vernichtung der Welt. Möglicherweise liegen hier die Wurzeln, warum später das Spiel Fallout so einen Reiz auf mich auswirkte.

Den Film The Day After habe ich gesehen, aber erst viel später. Was für eine Wucht er auf die Gesellschaft zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte, begriff ich erst durch Gerald Hensels Artikel. Gudrun Pausenwangs Die letzten Kinder von Schewenborn ging an mir vorbei, möglicherweise. Vielleicht habe ich das Buch auch gelesen, aber ziemlich erfolgreich verdrängt. Eindeutig in Erinnerung blieb: der Trickfilm Wenn der Wind weht von 1986. Ich mochte die zwei Alten, wie sie ihren Tee kochten und der Apokalypse trotzten, indem sie sie verneinten. Wie sie aus Matratzen und ausgehängten Türen einen Schutzraum bauten, in dem naiven Glauben daran die Strahlung damit auszusperren. Und dann doch krank wurden und zugrunde gingen an der Strahlung. Ihre Haare verloren. Ihre Zähne verloren. Langsam einander verloren. Das hat mich damals echt fertig gemacht.

Nun sind wir also wieder an dem Punkt. Meine Frau trägt unser zweites Kind im Bauch herum, während wieder ein paar Super-Egos zündeln und um die roten Knöpfe ihrer Atomköfferchen tanzen. Natürlich ist das nicht mit den weltpolitischen Ereignissen, der permanenten Bedrohung durch eine nukleare Apokalypse der achtziger Jahre vergleichbar, aber ich frage mich: Welche Traumata werden wir wohl unseren Kindern mitgeben?


Dieser Artikel wurde auch auf Medium veröffentlicht.

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