Internet essen Aufmerksamkeit auf.
Dieses Ding ist unersättlich!
Ein nobler Vorsatz für produktives Schreiben: Nutze die ersten Minuten des Tages. Kleine gelbe Notizzettel vollkritzeln, mit Gedanken Wände dekorieren; eine kurze Erinnerung, ein Nachhall aus dem Alltagstrott in ein Textdokument auf dem Computer hacken; Wortgeröll beiseite räumen, das sich so im Laufe der Zeit ansammelt, cut-up, edit, den Unterarm vollschreiben, egal was; schreiben, bevor die klebenden Vernunftgedanken aus der nächtlichen Katharsis empordämmern und sich purpurn schwer über alles legen.
Und nicht erst den Rechner anmachen und surfen oder Mails lesen. Also bewusstes auslassen, ich will mich nicht in den ersten Stunden mit E-Mails auseinandersetzen, denn sie zwingen mich zu einer Antwort, zu bloßem passiven Reagieren und fordern, mich zu etwas zu verhalten. Sie verhindern, mich mit einer Idee zu beschäftigen, die aus mir heraus kommt. Mag sein, dass das konservativ ist, aber ich züchte ja keine Dogmen.
Ich nenne es einen noblen Vorsatz, denn es hebt mich über das breiige Informationseinerlei, das die Gedanken einlullt und einem subkutan von den Großinformationsdistribuenten unter die Hirnrinde einmassiert wird. Und ich wachse daran. Doch es passiert immer häufiger – ich scheue prozentuale Angaben, versuche es aber mal damit – wenn nicht sogar in 80 Prozent der Fälle, dass ich unter guten Vorsätzen den Computer einschalte und eineinhalb Stunden später geistig halbseitig gelähmt vom Monitor aufschaue und nichts auf den Weg gebracht habe. Da wollte ich an zwei Geschichten gleichzeitig schreiben, etwas über Trappistenmönche recherchieren, lande dann bei „Hagiographie“ und lese etwas von Dostojewski und Sergej Jessenin. Mal huschen ein paar nackte Popos links und rechts über die Fenster, das ein oder andere Ablenkungstittchen ist vielleicht auch dabei, die erscheinen dann aber wirklich unwillkürlich und ganz ohne mein zutun, schlimme Bannerwerbung, pfui! Acht Minuten heute-Journal über den Dioxinskandal leiten mich direkt weiter zu Berichten und Fotostrecken über Massentierhaltung und Foers Appell an die fleischverzichtende Gutmenschlichkeit. Fünfseitige Zeit-Artikel sind dann meist das Endstadium dieser metastasentreibenden, ungezügelten Wissensbegehrlichkeit. Das ist alles interessant und trägt bestimmt dazu bei, das ich eines Tages ein besserer Mensch sein werde. Und ich muss alles alles lesen oder sammle es, der Read Later-Button ist mein Freund, der Notschalter und ich weiß gleichzeitig genau, dass ich diese Informationsberge niemals bewältigen werde. Oder erst, wenn sie alt und ranzig und eventuell irrelevant sind. Zeitgeschehen ist ein leicht verderbliches Gut, will man es nicht unter historischer Recherche verbuchen. Und überhaupt passiert ja heute viel mehr als, sagen wir, vor zwanzig Jahren, gell?
Es passiert heute nicht mehr als vor zwanzig Jahren, nur werden wir darüber schneller und einfacher informiert. Serendipity, also das (zweifelhafte) Glück etwas zu finden, nachdem man eigentlich nicht suchte, spülte mich schon an so manche Strände unbekannter Inseln. Das Internet, einmal eingewählt klinkt es sich direkt in mein Hirn, wirkt phänomenal aufmerksamkeitszersetzend. Ich facebooke und tumblere und flickere mich durch Bilderwelten, bis der Kopf am Ende ganz müd und schwer und überladen ist mit Eindrücken; und überlagert mit Bildern, die alles in allem höchstens noch ein diffuses Knarzen ergeben; eine riesige wabernde Wortwolke, mit vier Zillionen Begriffen und Brocken, ein unheimliches Korrelat und ich bin ausserstande, einen vernünftigen Haupt- und Nebensatz zu formulieren. Stecker ziehen als physische Intervention ist auch ziemlich aussichtslos, WLAN und iPhone funken auch noch den größten Mist in den letzten leeren Raum des Körpers.
Was hilft, ist Peter Lustigs Motto, das er am Ende einer jeden Löwenzahn-Sendung als umstürzlerisches Saatkorn ins Bewusstsein der Kinder pflanzte: „Und jetzt: abschalten!“, gefolgt von einer anachronistischen Drehbewegung mit Daumen und Zeigefinger, als die Fernseher noch mechanische Drehschalter hatten. Nur eine Idee, aber Unkraut kann auch Beton sprengen. So fühle ich mich und manchmal stelle ich fasziniert fest, wie sehr die große Ablenkung bereits mein Verhalten im Alltag prägt. Volle Maximalzerstreuung voraus! Dabei ist online-sein per se nichts schlechtes, nur mein Umgang damit ist manchmal uferlos. Zeit, an meinem noblen Vorsatz festzuhalten und nicht bloß tumb vorm Leuchtschirm dasitzen und warten, bis mir wieder das Gehirn überschwappt. Wobei, dann würden solche Texte vielleicht niemals zustande kommen?