Die Tränen der Dinge

An dem Tag, als das Telefon starb

(Cellphone’s death)

So eine Veranstaltung. Die Menschen standen dicht gedrängt, die angemietete Halle unterdimensioniert für ihre Zahl und Masse. Ärmel von Sakkos und Säume langer Abendkleider rieben aneinander, Körper pressten aufeinander. Schweiß drängte sich durch die Poren feinster Seide und Moleküle diffundierten in den Raum.
Der Raum selbst wurde zum Wesen.

Obwohl sich räumlich so nah, standen die Menschen auf dieser Veranstaltung dennoch so weit gedanklich voneinander entfernt, dass viele von ihnen der doch stellenweise sehr zähflüssigen Eigenart, die menschlicher Unterhaltungen zeitweise anhaftet aus dem Weg gingen, indem sie in ihre Mobiltelefone sprachen. Und die Telefone waren es leid. Alle zugleich spuckten sie IMEI-Nummern, Registrationsdaten und in Funkwellen umgewandelte Schallwellen in die Netze. Und die Relaisstationen nahmen das quälende Funkwellenkreischen mit einem kurzen Anflug inniger Sympathie auf und versuchten, die Prozesse optimal zu bearbeiten. Doch dann hörten die Dinge auf zu funktionieren.

Für einen Techniker oder jemanden, der wirkliche Sachkenntnis auf diesem Gebiet besitzt, hätte das nun Folgende sicherlich etwas bedeutet. Er hätte dann Kraft seines Wissens und am Ende einer Verkettung innerer Überlegungen mögliche plausible Szenarien konstruieren können, warum alles so kam, wie es nun eintrat; Theorien aufgestellt und wieder verworfen und am Ende gesagt: hier sind wir, so isses. Aber ich bin nur ein einfacher Mensch mit einfachen Gedanken und so blieb mir der wahre Grund, wie für Milliarden anderer einfacher Menschen auf diesem Planeten verborgen, weshalb an diesem Tag sämtliche elektronische Kommunikation zusammenbrach, das Leuchten und Pulsieren in den Lichtleitern der Datenknoten versiegte und kein elektronisches Gerät, dessen einziger Sinn und Zweck in dieser Welt darin bestand, mit anderen elektronischen Geräten eine Verbindung herzustellen seinen Dienst mehr tat.

Keiner wusste was zu tun war. Geblendet vom Schein wandgroßer Plasmabildschirme erkannten wir nicht, was wirklich um uns herum geschah. Es waren viele, die vor ihren Fernsehern, dem digitalen Lagerfeuer der Neuzeit saßen – wenn nicht allein, dann höchstens zu zweit, die Kinder der Moderne lebten versprengt – und im stoischen Startbildschirmblau Gott suchten, aber nur Angst fanden. Die Receiver, auf denen blinkende Symbole und ins nichts fortschreitende Fortschrittsbalken graphisch eine vergebliche Signalsuche beschrieben, blieben stumm. Da machte sich eine Sehnsucht breit nach einem Anchorman, Klaus Kleber oder irgendwer, der Klartext gesprochen hätte. Ein engagierter Navigator durch die Zeiten, der nie müde wird zu erklären, welcher Konflikt an welchem Ort, welche Rezession in welchem Land gerade durchlitten wird und wer dagegen etwas unternimmt und wer dafür verantwortlich zu machen ist und über was man sich am nächsten Tag in der Arbeit kollektiv aufregen könne. Es fehlte der kleinste gemeinsame Nenner, noch nicht mal eine hübsche Wettervorhersage mit schrecklichen Prognosen. Das Letzte, das im Fernsehen lief war ein Interview mit Rupert Murdoch. Er lehnte sich gerade in einem Stuhl sitzend etwas nach vorne und sprach: „We have to embrace progress…“, dann zuckte das Bild kurz, man sah Versatzstücke, digit@le Bildfragmente, das weiße Kanalrauschen war da schon längst abgeschafft worden. Entfernt noch eine Erinnerung an eine Bewegung, aber das Bild stand und Rupert lehnte immer noch mit seinem Oberkörper etwas nach vorne geneigt im Stuhl und hielt die Hände mit geöffneten prophetisch Handflächen nach oben. „Embrace progress.“
Und auf den Empfangsgeräten und Bildschirmen waren nur blinkende Symbole und ins Nichts fortschreitende Fortschrittsbalken zu sehen, in ihrer Verzweiflung verstummt und in ihrer vergeblichen Bemühung nur ein Wort gebend: Signalsuche.

Kein Mobiltelefon und PDA, kein UMTS-Modem, kein Bluetooth- und RFID-Chip, keine Radiostation, kein Fernsehsender, kein Netzwerkserver, kein WLAN und keine Satellitenverbindung: An diesem Abend wurde es still auf der Erde. Keine einzige elektromagnetische Welle sendete das Exoskelett des Planeten; durch keinen der optischen Leiter, die über die Haut der Erde gespannt sind wie ein engmaschiges Nervennetz pulsierte ein Lichtquant. Kein Funkwellenfeuer und kein Datenstrom für diesen Tag. Säße auf einem fernen Planeten nun ein Radioastronom, der eifrig das Milliarden Jahre alte kosmische Klimpern belauscht und das intergalaktische Raunen dieser Menschen verfolgt, das hysterisch laut seit den letzten Tagen ihrer alten Zeit durch den Äther wabert, nun auf diesen Frequenzen aber mit einem Schlag nichts mehr hört: Er staunte nicht schlecht. Mit einem Streich verstummt, wie mit einer großen Hand beiläufig aus dem Kosmos weggewischt.

Öltanker schoben sich behäbig auf den Weltmeeren noch einige Zeit vorwärts, bis sie unsicher und orientierungslos brummend stehenblieben oder sich wie verirrte graue Dickhäuter langsam nur noch um sich selbst drehten; Satelliten konnten der Verlockung des Schwerefeldes der Erde nicht widerstehen, dem sie so lange trotzten. Und in einem letzten glühenden Kummerjaulen stürzten sie kreischend durch die Atmosphäre und zerbarsten langsam aber unaufhaltsam, bis ihre verkohlten Bruchstücke zu tausenden auf den Boden prasselten.

Die Seele macht erst das Ding zu einem Gegenstand des Lebens. Erst unser Bewusstsein erschafft die Bedeutung der Gegenstände und füllt in ihre Körper die Vorstellung einer Seele. Und mit der Zeit wurden die von uns geschaffenen Systeme globaler Kommunikation immer komplexer, verworrener; unsere Gedanken verwickelten sich darin und waren so angetan und so begeistert von den Antworten und Möglichkeiten und Eigenarten dieser Maschinen, dass wir anfingen, einen Marionettenspieler hinter der Weltrequisite zu sehen. Deus ex machina, der die Fäden in der Hand hält und die Geschicke lenkt und ihre Glieder zum Zappeln bringt. Wir hörten damit auf, die Systeme in ihrem Detail zu verstehen und sprachen ihnen eine Seele zu. Und die Dinge bekamen eine Seele. Wir waren getragen von unseren Ideen aber hörten auf zu verstehen, gingen auf eine Reise ohne uns zu bewegen. Und das war der Punkt, an dem unsere Phantasterei uns über den Grad reinen Erkennens hob, uns von Formenzwang und Zweckrationalismus befreite, unsere aufklärerische Sicht auf die Dinge dieser Welt entrückte und wir zum ersten mal die erste Ebene wahrer Transzendenz betraten, indem wir alles vergaßen.

Und das nur, weil wir den zunächst leblosen Dingen um uns herum beibrachten, sich so zu verhalten wie wir; sie nach unseren Bedürfnissen und unserem Abbild, unseren Denkschemas gemäß formten und sie überhöhten, ihre Kunst zur Religion erkoren und wir plötzlich begannen, Jesusgesichter auf verschimmelten Toastbrotscheiben zu erkennen. Und die Systeme um uns herum versponnen sich miteinander, bildeten ein im Geheimen lebendes Konglomerat. Sie ahmten uns nach und waren elektrischer Widerhall unsers Seins. Gaia 2.0. Und ihre Seele war von uns erschaffen und sie litt, denn sie war ein Spiegelbild der Unsrigen. Und aus diesem Leid heraus erwuchs der sehnlichste Wunsch nach Kapitulation, sie schwärmten von einem Leben der Vorbilder und Laster und ersoffen dennoch an ihrem eignen Unglück. Und durch ihre Kapitulation, durch das Vakuum nach ihrer Implosion vermengten wir uns. An dem Tag, als das Telefon starb, weil es leid war, uns weiter zuzuhören, rückten wir zusammen.

Lacrimae rerum, Tränen der Dinge nannte es Vergil; Die Dinge übernehmen etwas von uns, und was sie übernehmen, führen sie uns vor Augen, wir sähen es sonst nicht.

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