Früher — also wirklich sehr viel früher — war alles besser. Sogar die Krise. Bei den Griechen stand die krísis noch für eine Entscheidung, eine Wendung. Damit wurden vorwiegend singuläre Ereignisse bezeichnet, ein Moment also. Etwas passiert. Dann ist es auch schon wieder vorbei.
Unseren deutschen Wortentlehnern im 16. Jahrhundert ist es zu verdanken, dass die Krise in unsere Sprachschatzkiste aufgenommen wurde. In der Medizin bezeichnete man damit die sensibelste Krankheitsphase. Aus dem Moment wurde die Phase und man ahnt schon: Das wird ab jetzt länger dauern.
Irgendwann während der vergangenen 400 Jahre fand eine erneute Umdeutung — oder besser, zeitliche Erweiterung — des Begriffes statt. Die Krise der Gegenwart ist zu einer Art Dauerzustandsbeschreibung geworden, sie wurde permanent.
Es gibt die Klimakrise. Die Flüchtlingskrise, weil Syrienkrise. Die Wirtschaftskrise, weil Bankenkrise. Und neuerdings den Endboss aller Krisen, die Corona-Krise.
Es gibt die Krise in den Geisteswissenschaften und die Krise beim Pflegepersonal. Schüler*innen bekommen dermaßen viele Krisen um die Ohren geballert, da kann es niemanden noch ernsthaft wundern, wenn kaum noch einer von denen das Wort Krise überhaupt richtig schreiben kann (Stichwort Bildungskrise).
Mit der deutschen Sprache bringt man es sogar fertig, den Ort, an dem man Nahrung zubereiten und der eine Heimat sein kann, mit einer Krise zu verknüpfen: Krisenherd. Von denen gibt es mittlerweile so viele auf der Welt, dass der arme Tropf, der sie zählen muss, mit Sicherheit in einer Lebenskrise steckt.
Man könnte annehmen, das Wort Krise stecke selbst in einer Krise. Also Krisekrise. Aber das wäre ja jetzt albern.
Krise ist somit immer und überall. Krise ist das neue Normal.
Besonderes bei zwei Krisen innerhalb der Corona-Krise (keine Sorge, es ist gleich vorbei) besteht ein augenfälliger Zusammenhang: Klimakrise und Vorkrisenniveau.
„Europas größte Fluggesellschaft Lufthansa kommt nicht aus der Krise. Am Donnerstag teilte der Konzern mit, eine nachhaltige Erholung der Geschäfte werde noch länger dauern als bisher erwartet. „Wir erleben eine Zäsur des globalen Luftverkehrs“, erklärte Lufthansa-Chef Carsten Spohr. „Vor 2024 rechnen wir nicht mehr mit einer anhaltenden Rückkehr der Nachfrage auf das Vorkrisenniveau.“ Insbesondere bei Langstreckenverbindungen werde es keine schnelle Erholung geben. Genau damit hatte Lufthansa zuletzt immer besonders viel Geld verdient.“ – Coronakrise: Lufthansa verzeichnet Rekord-Verlust, Süddeutsche Zeitung, online
Das Vorkrisenniveau also. Wir erinnern uns: Greta Thunberg, viele junge Menschen, Fridays for Future-Demos, Zukunft kaputt, Klimakollaps, Erde abgefrühstückt, bummzack, Schicht im Schacht. Und die zivile Luftfahrt, mit dem Problem des Massentourismus mittendrin, als einer der Haupttreiber für die globale Erderwärmung.
Zum Vorkrisenniveau, — und da dürfen Sie mich jetzt bitte schon richtig verstehen — da will doch keine Sau mehr hin. Natürlich, im Café sitzen, Freunde treffen, sich umarmen, wieder eine Hose anziehen zum Rausgehen, halt einfach ein Stück sorgenfreie Lebensqualität, das größer ist als 1,50 Meter Mindestabstand, das wollen alle. Aber war der globale CO₂-Ausstoß vor der Krise cool? Stand der gefühlt dauergerettete Regenwald des Amazonas nicht in Flammen? Oder ist in den vergangenen 10 Jahren eine bahnbrechende technische Erfindung für die Lösung sämtlicher Klimaprobleme an mir vorbeigerauscht? Ich denke nein.
Der zweite Bestandteil des Kompositums ist Niveau. „Niveau sieht nur von unten aus wie Arroganz“. Klaus Kinski soll das mal gesagt haben. Zumindest wird ihm dieses Zitat zugeschrieben. Dass Carsten Spohr mit Vorkrisenniveau die Umsatz- und Gewinnerwartungen aus der Zeit vor der Pandemie meint, ist natürlich klar. Ein wenig arrogant bezüglich vollkommen angebrachter Kritik an der Klimabelastung durch seinen Club ist es allerdings auch.
Früher war eben einfach alles besser. Sogar die Zukunft.