Es war Montag. Montag vergangener Woche. Ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit, marschierte über den Parkplatz vor unserem Bahnhof. Der wolkenverhangene Himmel peitschte heftig seinen Regen in mein Gesicht. Mit brachialer Urgewalt zerrte der Wind an meinen Klamotten. Ich war müde, frustriert und genervt von der vor mir liegenden Woche und mit diesen in der Arbeitswelt weit verbreiteten Montagsgefühlen stand ich nicht alleine da. Trotzig, griesgrämig und verbittert dreinblickende Gesichter um mich herum zeugten von der Natur dieser Volkskrankheit – Montag halt. Ich dachte: ›Warum bist du so dröge wie all die andern? Warum lächelst du nicht und freust dich, dass du am Leben bist, freust dich, dass du die Luft atmen kannst, freust dich, dass dir keiner etwas böses will?‹ Aber an diesem Morgen war mir absolut nicht nach Freude und Glückseeligkeit zumute. Ich krempelte den Kragen meiner Jacke weiter nach oben und stapfte forschen Schrittes in Richtung Unterführung, von der aus man die zwei Bahnsteige erreicht.
Dort war der zugige, kalte Wind noch um einiges grausamer und meine Stimmung verdüsterte sich zusehends – verständlich. Dies änderte sich jedoch schlagartig ab dem Augenblick, als ich mir der Musik gewahr wurde, die mich empfing und still und heimlich an mein Ohr drang. Es war kein Vivaldi und auch kein Bizet aus Mono-Lautsprechern, so wie sie an verschiedenen U-Bahn Stationen in München installiert sind, nein. Es war rauhe, unreine, analoge Musik, gespielt von einem zerlumpten und heruntergekommen Mann mit einer Quetsche. Das Instrument war in einem tadellosem Zustand, was man von dem Musikus am Boden nicht behaupten konnte. Schmuddelig und verdreckt saß er dort hinter seinem Hut, in dem sich ein paar Cents verirrt hatten. Dieser Morgen war verflucht kalt und im Gegensatz zu der ergrauten und erstarrten Umgebung waren seine Finger weder klamm, noch ungelenkig. Dieser Mensch spielte ein Medley aus verschiedenen Klassikern, das an Virtuosität und Variation kaum zu überbieten war. Als ich die Treppen zum Bahnsteig emporstieg, erkannte ich mit einem Male die Melodie – Somewhere over the Rainbow.
Dieses Pisswetter und die frustrierten Leute, kombiniert mit der Vorstellung, wie es jetzt wohl über dem Regenbogen wäre – unbeschreiblich. Das Lied, das jener Mann anstimmte, war eine Lobeshymne an all das Gute und Schöne, das für jenen Augenblick an diesem Morgen so unerreichbar, so fern schien. Es erzählte eine Geschichte von all dem, was nun nicht war. Es war Musik, die mein Gemüt erhellte, die in mir die Sonne aufgehen ließ. Ein paar Minuten lang lauschte ich noch den Klängen, schaute in die gelangweilten Gesichter der Anderen und lachte. Lachte zunächst in mich hinein, dann aus mir heraus. Mit aller Kraft, denn ich konnte und wollte meine Hingabe zu diesen Klängen, zu diesem Traumtanz nicht verbergen. Eilig hastete ich die Treppe nach unten, denn ich wollte diesem Menschen als einfachstes Zeichen meiner Anerkennung Geld geben.
Mein Geldbeutel trägt seinen Namen eigentlich zu Unrecht, denn dieses Ding ist mehr Beutel, denn Börse. Allein ein fünf Euroschein lugte mir einsam und verlassen entgegen und diesen gab ich ihm. Ein freudestrahlendes Gesicht grinste mir entgegen, was mich in Anbetracht der Geldsumme auch nicht weiter verwunderte. Ich nickte zustimmend, lächelte und machte mich auf den Weg zu meiner S-Bahn. Jeden Musiker, der auf der Straße oder vor öffentlichen Einrichtungen sein Lager aufschlägt, um die Welt um ihn herum mit seinen Klängen zu verzaubern, unterstütze ich. Musik ist pure Poesie, Poesie in ihrer absoluten Reinform – direkt, konkret und ohne Umwege.
Neulich, es mag noch nicht allzu lange her sein, da saß ich vor dem Fernsehapparat. Langeweile trieb mich vor das Gerät, lust- und ziellos schaltete ich mich durch die Programme, in der Hoffnung auf etwas kurzweilerisches Amüsement zu stoßen. Ein Kulturkanal bannte meine Aufmerksamkeit. Auf dem Sender lief eine Operettenaufführung mit der Callas, ganz in schwarz-weiß und mit leidlich zerkratztem Tone. Ihr momentaner Part war schweigen, lediglich die Streicher spielten ein herzerweichendes Thema. Minutenlang sah man nur das Gesicht der Opernsängerin, die schmerzlich leidvoll dreinblickte, ganz so, als laste aller Weltenschmerz auf ihren Schultern. Ihre Mimik war ein Ausdruck schwermütiger Tragik und mit tieftrauriger aber dennoch zuversichtlicher und unendlich sinnlicher Stimme setzte sie wieder ein – und ich weinte. Ich wußte weder, von was sie da sang noch welcher Quell ihrer Schmerzen Ursrpung war. Aber jede der zart über ihre Lippen gehauchten Noten berührte mein Herz und ich weinte vor Freude, denn sie teilte ihr Leiden mit mir. Dicke Tränen kullerten über meine Wangen, ich strich sie mit meinem Handrücken trocken und hieß mich einen Tor. Dies war der Moment, als ich wegen der Callas weinte aber eigentlich ist das eine andere Geschichte und die sollte nicht hierher gehören.
Als ich meine Begegnung mit dem Akkordeonspieler meiner Schwester erzählte, schüttelte sie verständnislos den Kopf. „Fünf Euro?!”, rief sie verdutzt. „Genau, du hast es ja!” Sie hat recht. Eigentlich habe ich das Geld nicht, denn im Augenblick verdiene ich nicht sonderlich viel. Doch es ging gar nicht darum, ob ich das Geld habe oder nicht. Es ging mir an diesem Morgen nur um das, was dieser Mensch in mir bewegt hatte. Dafür bin ich ihm immer noch verdammt dankbar. Und dabei weiß ich noch nicht einmal seinen Namen. Nein, so ein Mensch darf nicht namenlos bleiben. Gleich morgen werde ich ihn fragen.