Es war kalt für diese Jahreszeit, eigentlich zu kalt. Der Sommer hatte seinen Dienst erfolgreich abgelegt. Doch nun hielt der Winter mit riesigen Schritten Einzug in New Orleans. Die Sonne schien den ganzen Tag recht fröhlich und die Luft war klar. So eine Luft, die man auch glatt hätte nennen können. Man meinte, man sähe richtig die hauchdünne Schicht, die sich vor einem aufbaut. Doch jetzt war es dunkel geworden. Die klare und beruhigende Kühle, die ihn den ganzen Tag umgeben hatte, wurde jetzt schneidiger und noch kälter. Mit einem kurzen Summen sprangen die Straßenlaternen an, flackerten kurz und erhellten dann mit ihrem spärlichem Licht die halbverborgenen Schatten der Straßen und Gehsteige. Die Dunkelheit nahm rapide zu. Der Himmel wurde von dem aschfahlen Schein des aufgehenden Mondes in eine undefinierbare Farbe getaucht.
Gabriel schlenderte allmählich auf die Bourbon Street zu, die im French Quarter, also dem französischen Teil von New Orleans lag. Seine Wohnung lag nur noch ein paar Blocks von ihm entfernt. Doch dann blieb er stehen, atmete einmal tief durch während er seine Augen schloß und blickte starr auf den Boden, der unter seinen Füßen lag. Ein Auto fuhr vorbei. Die Lichtkegel trafen ihn nur kurz. Das Auto bog in die nächste Straße und war auch schon wieder fort. Er richtete seinen Blick wieder auf, doch es viel ihm schwer. Müdigkeit machte sich in ihm breit. Gabriel hatte das Gefühl, daß es ihn immer mehr zum Boden hin ziehen würde. Eine Tasse Kaffee würde ihm jetzt gut tun. Er hatte immerhin noch viel Arbeit vor sich. Arbeit, die seinen Buchladen anbelangte. Schweren Schrittes schleppte er sich weiter. Die letzte Straßenlaterne entfernte sich immer mehr und die Dunkelheit verschlang ihn. Er bog in die Bourbon Street ein.
Der Mond war von einem hauchdünnen Nebel bedeckt. Nebel, der sich jetzt allmählich in den Straßen breitmachte, der eindrang in jede Fuge und Ritze. Ein Ehepaar kam ihm schnellen Schrittes entgegen. Sie führten anscheinend ein äußerst interessantes Gespräch. Der Mann warf seine Zigarette zu Boden. Funken tanzten Gabriel entgegen. Sie sprangen herum, als ob sie einen Freudenstanz einlegten. Doch dann kam Wind auf und trieb sie auseinander, nahm ihnen all ihre Glückseligkeit, bis sie ihren Kampf aufgaben und erloschen. Vergangen und vergessen. Er blieb stehen und lauschte. Hörte, trieb seinen Sinn immer weiter in die Ferne, verschaffte ihm Flügel. Musik, er hörte Musik. Sie war schon so nah, daß er sie fast überhört hätte. Eine Gitarre spielte, melodisch, harmonisch. Gabriel drehte sich in die Richtung, aus der er die Klänge vernahm.
Ein Mann saß in einer kleinen Gosse, unmittelbar neben ihm. Gabriel konnte sein Gesicht nicht sehen. Doch irgendwie erinnerte ihn dieser zu seiner Musik summende Penner an den Weihnachtsmann. Er hatte genau so einen markanten Bart, den man als Kind liebte. Der aussah, wie Zuckerwatte, wie frischer Schnee. Weiß, er leuchtete weiß. Obwohl der Penner in einer Flut aus Dreck und Schmutz unterzugehen schien, strahlte der Bart immer noch sein intensives Weiß. Die Musik wurde leiser, schien sich immer weiter zu entfernen. Wie ein Traum der war, aber nicht mehr ist. Wie eine wage Vorstellung an etwas.
Verwebt in seinen Träumen zog es Gabriel auf einmal schlagartig und mit einem Ruck, der einem Schmerz glich, der ihm seine Muskeln und Adern zucken ließ zurück in die kalte, leider Gottes reale Welt zurück. Er mußte erst mal seine Sinne sammeln, war noch wie betäubt. Sein Gehör vernahm wieder das, was es schon 32 Jahre lang gehört hatte. Das Pochen seines Herzens. Es schien die ganze Zeit über stillgestanden zu haben, als er in seinen Vorstellungen und Träumen herumstocherte. Doch nun machte es sich wieder bemerkbar. So gut bekannt und doch so fremd dröhnte und hämmerte es. Wieder und immer wieder. Der nächste Schock kam mit der Wahrnehmung der Kälte. Trotz seines langen, schwarzen Mantels durchdrang die schneidende Kälte den Stoff, seine Haut abgefroren bis auf die Knochen. Gänsehaut überzog einen kurzen Augenblick seinen Körper. Der Wind, mit eben dieser Kälte ließ sein schwarzes Haar flattern, chaotisch und unkontrolliert. Er sah jetzt wieder das gleiche grauschwarze Bild vor sich, die Straßen von Nebelschwaden durchzogen. Den Mond, der einen alten Bendley vor ihm anstrahlte und sich in der Rückscheibe widerspiegelte. Die Kanaldeckel, aus denen sich Dampfwolken zogen und den Himmel, der trotz des Nebels noch gut sichtbar war. Der Himmel, die unergründliche Schwärze, das unendliche Firmament. Bei dem Gedanken daran bemerkte er, daß über ihm sich Millionen und abermillionen Sterne ausbreiteten. Von einem Ende dieser endlosen Tiefe bis zum Anderen. Äonen von Lichtjahren entfernt, vielleicht schon tot bevor sie überhaupt geboren wurden. Nah und doch so endlos fern.
Gabriel richtete seinen Blick wieder auf die Straße. Kondensierter Atem stieg empor. Zielstrebig und ohne einen zarten Hauch von Zögern führten ihn seine Füße vor die Türe seines Laden. Seine Finger waren schon so kalt gefroren, daß er kaum noch fähig war, die Schlüssel an seinem Schlüsselbund zu sortieren, geschweige denn den Schlüssel in das Schloß zu bringen. Mit einem kurzen Knarren sprang die Türe auf und wohlige Wärme strömte ihm entgegen, lullte ihn ein, zog ihn förmlich hinein. Mit einem lauten Schlag donnerte die Türe zu. Er schaltete das Licht an.
(Anm. d. Verf.: Erste Geschichte. Entstand 1995)