Alles musste so kommen. Es lief einfach schon viel zu lange gut. Manchmal fühlt man, wenn die guten Tage vorüber sind, sie sich langsam zu Ende neigen. Sie werden lau, es liegt dann in der Luft. Es gibt dann einen gewissen Punkt. Von hier an konnte es nicht mehr besser werden, man wusste es genau, ertrug es mit Fassung, gespannte Duldungsstarre. Und auch von den darauf folgenden Tagen an konnte es nicht besser werden. Keine Aussicht. Das zog sich dann alles, bis es spürbar schlechter wurde, wirklich schlechter wurde und nur noch ein blasssüßer Nachhall der satten Tage blieb. Sirenen der Vergangenheit, die klingen, wenn man auf dem Weg nach unten, raus aus der Stadt ist.
Hin und wieder verschwand der Körnel. Einfach so, das war nichts besonderes, es geschah häufiger, dass er für ein paar Tage unauffindbar war. Man hätte dann die halbe Welt auf den Kopf stellen können, ohne ein geringstes Indiz für seine Anwesenheit auf diesem Planeten zu finden, nur um ihn nach unbestimmter Zeit wieder an seiner Schreibmaschine sitzend vorzufinden, so, als sei er nie weg gewesen oder direkt aus einer anderen Dimension wieder in die unsere gefallen. Hin und wieder zurück reiste der Körnel oft, von den Orten, von denen sonst niemand wusste, dass es sie gibt. Hin und wieder zurück. Dann blieb er fern. Für immer. Das war letzten Freitag.
Es lief viel zu lange gut, das heißt, es ging ihm ein paar Monate gut. Er tanzte auf einem 26 Wochen high und das war eine lange Zeit für den Körnel. Dabei fand er eine Anstellung in einer kleinen Redaktion und eine schöne Frau, die seine Macken küsste. Und das war eine absolute Ausnahme, bis jetzt hielt keine seiner Beziehungen länger als 48 Stunden. Wie das mit ihr war? Was anders war? Keine Ahnung. Es war wohl das Lächeln dieser Frau, das eben ein bißchen länger und deutlicher, fragender als das gewöhnliche Lächeln war; eben nicht bloß ein höfliches, aufmerksames Lächeln, das man zeigt, wenn man den Menschen gegenübertritt. Da lag etwas mehr in diesem Gesicht, etwas dahinter, das im Verborgenem blüht. Und das die Neugierde auf sich zog.
Es war eine Ausnahme, diese Beziehung. Frauen mochten den Körnel dafür, dass er gut zuhören konnte. Er war immer der Typ „Frauenversteher“, ein guter Freund, nicht hässlich, aber kein natürlicher burner. Er war der Klavierspieler ohne sein Instrument unter all den von Mädels angehimmelten Gitarrenspielern am Lagerfeuer. Ich glaube, das hatte er nie überwunden. Charmant, ein Gentleman eben. Alte Schule. Aber in ihren Augen halt nie mehr als nur nett. Das war in Ordnung, solange er nicht interessiert war, eine Frau zu finden. Der Körnel versuchte jedoch nahezu ständig eine Frau zu finden, er kam damit nie klar. „Die Liebe ist heutzutage eine der letzten großen Utopien“, war einer der Sätze auf den Papierbögen, die ganz oben auflagen.
Neben der Schreibmaschine stapelten sich hunderte Blätter. Voll, leer, beschrieben, bekritzelt, wüster Zeichensturm des sich-auseinander-gesetzt habens mit Gedanken. Kreativ, so sah es hier eigentlich immer aus. Schade dass er immer nur dann wirklich kreativ war, wenn es ihm dreckig ging. Die Chemie in seinem Gehirn änderte sich. Mal wieder. Große Depression, ihr Raunen grollte seit Tagen. Sie kündigte sich an, nicht so wie früher, als es ihn plötzlich und unvorhergesehen von einer Minute zur nächsten erwischte. Skurril, wie er sich heute selbst dabei beobachten konnte, wie der schwarze dumpfer Schatten langsam über sein Rückenmark hinaufkroch, durch die Nerven den Gehirnstamm umschlängelte. Oder den Weg über die Därme nahm, den Magen, die Kehle hinauf; so genau war das nie zu lokalisieren. Früher war es die schiere Angst vor der Depression, die ihn stürzte. Heute fiel er nicht mehr auf die Knie, sondern gleichgültig nach vorne auf das Gesicht, erdultete es.
Er sagt, es geht ihm gut. Er sagt sehr wenig. Als ich ihn beim Friseur sehe, erzählt er von Brüssel und von seiner Frau, jetzt ja eigentlich nicht mehr, es fühlt sich bloß noch so an, gerade geschieden, ausgezogen, die Pfannen hat sie mitgenommen. Er sagt sehr wenig und es scheint ihm gutzugehen. Und das wenige, das er sagt ist voll Zuversicht und Neugierde auf ein neues, altes Leben. Das alte Leben. Der Fön schnaubt heiser heisse Luft, während er das sagt und smalltalkbullshit, Stimmen der Anderen getränkt mit Belanglosigkeit durch den Raum wabern. Das war letzten Dienstag.
Und von da an wusste ich genau, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis es wieder abwärts ging, auf der holprigen Straße raus aus der Stadt. Ich blieb dran, der Körnel wimmelte ab. Sein Verhalten war bedauerlich, es plagte ihn eine Art geistiger Kurzatmigkeit, ständig entschuldigte er sich bei den Menschen in seinem Umfeld. Zwei Tage später ging er nicht mehr an das Telefon. Und heute ließ ich mir vom Hausmeister des Blocks die Wohnung aufsperren.
Ich sagte, ich sei ein Freund und wolle nach dem Rechten sehen. Seine Sachen ließ ich unverändert. Hin und wieder kam er ja zurück. Neben der Schreibmaschine lag ein Blatt, das mit besonders großer, krakeliger Schrift beschrieben war. „Good days are gone, better days are coming.“
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