Einschlafen mit den Sirenen auf der Straße und aufwachen mit ihnen. Dann aufstehen, duschen, frische Unterwäsche anziehen. Verlorene Haare aus dem Abflusssieb fingern, das kanns ja nicht sein. Stellen Sie sich mal vor, es passiert etwas. Man stirbt und fällt um. Einfach so. Wie ein nasser Sack Kartoffeln (wobei dieser kühl und vor allen Dingen trocken gelagert werden sollte). Stellen Sie sich das mal vor: Sie sterben und dann liegen sie, dieser verklumpte Zellhaufen, dieser nasse Sack – dann liegen sie da also auf der Straße und tragen keine frische Unterwäsche. Also tot, quasi in alten Klamotten. Das ist doch grauenvoll. Und die Gesichter der Leute, die dann ihre Wohnung räumen, beim Anblick des verstopften Abflusses; beim Anblick der braunmatschigen Haarknoten. Überall. Schrecklich.
Ich verlasse meine Wohnung und werde auf dem Flur von einem Elektriker angesprochen. Er steht neben der Türe des Appartements schräg gegenüber. Als er mich bemerkt, dreht er seinen Körper leicht zu mir, während er weiterhin in den geöffneten Schaltkasten starrt. Drähte quellen dort heraus. Gelbe, grüne, braune. Der Elektriker stochert lustlos murrend mit seinem Phasenprüfer im Drahtknäuel herum.
Elektriker: „Die Leute in ihrem Stockwerk sagen, dass bei keinem der Türöffner geht.“
Ich: „Echt wahr?“
Elektriker: „Ja. Ist ihnen das noch nicht aufgefallen?“
Ich: „Bis jetzt noch nicht. Nein. Aber: Wäre mir bestimmt aufgefallen. Irgendwann. Nur bei mir klingelt nie jemand.“
Der Elektriker lacht. Dann sage ich nichts mehr dazu. Während er den defekten Stromkreis prüft, prüfe ich in Gedanken meinen defekten Freundeskreis. Etwas sollte gegen diesen Zustand unternommen werden.
„Sie gehören zu den Stillen im Lande“. Stille Wasser sind ja bekanntlich tief. In dieser Hinsicht bin ich ein Meer, bin ich ein fucking Ozean; ein Marianengraben, eine Untiefe sondergleichen, in die allenthalben Roboter-U-Boote hinabgeschickt werden, die dort kleine Erinnerungs-Titantäfelchen aufstellen. Hier war mal jemand.
Dass ich zu den Stillen im Lande gehöre, das bescheinigte mir ein Persönlichkeitstest von Parship, einer Plattform für Kontakt suchende Singles im Internet. Sozialangst vermutete ich zunächst als Antrieb, weshalb ich mich dort etwas überstürzt vor ein paar Tagen registrierte. In Wirklichkeit war aber ein Gehirndoktor Vater des Gedankens. So eine verzärtelte Vorstadt-Husche. So ein Detlef oder Kurt oder Rüdiger (wobei ich jetzt niemandem mit dem Namen Detflef oder Kurt oder Rüdiger zu nahe treten möchte. Sie sind gewiss gute Menschen, ehrbar, strebsam. Ach, sie wissen was ich meine). So ein „Typ“ also, so ganz natürlich. Schrecklich supernatürlich. Jedes mal, wenn ich bei ihm bin, frage ich mich, wer von uns beiden eigentlich die größeren Probleme hat.
Detlef allein trägt also Schuld, der mir solange das Hirn schrubbte, mir solange links und rechts durch den Hörtrichter den Staub von meiner Denkfurche blies, bis es kaum noch auszuhalten war. „Schauen sie,“ und das sagte er besonders gerne, „es ist doch so wichtig, sich zu sozialisieren.“ Er tat mir wieder leid. Tags darauf meldete ich mich bei Parship an.
Und Parship testete mich. Bedingung für die kostenlose Aufnahme war jener Persönlichkeitstest, der mir „melancholische Reaktionstendenzen in Fällen seelischer Kränkungen und Konfrontation mit Problemen“ attestierte. Ein langer Satz und ich lachte. Zunächst noch. Aber nicht der Länge des Satzes, sondern der Direktheit, dieser ja ganz offensichtlichen Dreistigkeit wegen, mir das so ungeschönt ins Gesicht zu sagen. Zudem fühlte ich mich doch psychisch stark. Wie ein aufgepumpter Aminosäurepräparatfresser sozusagen, nur eben im Geiste. Jedenfalls breitschultrig genug, alle Probleme anzugehen, sie anzuspucken und auseinander zu nehmen. Rückzugstendenzen. Ich lachte, wie lächerlich. Aber Parships Attest lag richtig.
Hintergrund ist: Ich schreibe Briefe an das Universum. Lachen sie jetzt bitte nicht voreilig, ich lecke ja keine Salzkristalle und bastle mir auch keine Hüte aus Aluminiumfolie gegen kosmische Strahlung, die angeblich mein Bewusstsein beeinträchtigt und mich zu einem willenlosen Zombie macht. Ich schreibe halt Briefe; das sind Bestellungen für Dinge, die ich mir wünsche, von denen ich hoffe, dass sie eintreten werden. Kein Wort darüber, ob das Verfahren wissenschaftlich haltbar ist. Taufen sie das Kind „Autosuggestion“ oder glauben sie daran, dass das Universum wirklich hilft. Wie es funktioniert ist egal. Wichtig ist, was am Ende dabei für sie rausspringt. Eine gute Runde beim Bowlen und generell mehr sportliche Aktivität waren die ersten erfolgreichen Bestellungen. Und letztens trug ich dem Universum meinen Herzenswunsch vor: Es solle mir gefälligst eine Frau schicken, die mich liebt. Und ich auch sie. Solche Bestellungen muss man schon ganz genau formulieren. Eine Frau, die bei mir bleibt (wichtig), mich küsst und vertraut, so wie ich ihr vertrauen werde. Amen. Und sie solle mir ihre Liebe bitteschön offen zeigen, ich erkenne nämlich solche Dinge kaum bis gar nicht. Wunsch abgeschickt. Problem bleibt: erkennen, wann die Bestellung ankommt.
Folgendes nun: An der süßwarenfreien Kasse frage ich nach tunfischfreien Delphin. Blamage. Natürlich ein Versprecher. Zartbehoste Beine in viel zu knappen Shorts verschwinden vor mir durch den Ausgang. Die Blicke der Männer kehren der Frau hinterher, fegen den Boden sauber. So sauber wars da noch nie. Im Abfalleimer vor dem Supermarkt liegt ein Hummer.
Später dann bei Subways, ich gönne mir ein Sandwich. Hinter mir steht eine Frau, vielleicht Anfang dreissig. Als ich mich umsehe lächelt sie. Hübsch, aber ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht hätte sie das, wenn ich es eher zugelassen hätte. Freitags bin ich oft besessen vom „jetzt meine Zeit„-Ding, ein Wochenendsog hin zum Alleinsein. Da erinnere ich mich an das Attest von Parship.
Die Frau ist etwas ratlos darüber, welches Sandwich sie nehmen soll. Bei Subways ist man das schnell, zumeist beim ersten Besuch. Der Verkäufer nimmt ihre Bestellung auf. Sein Deutsch ist schlecht, die Frau versteht seine Frage nicht, ob sie lieber Scheiben- oder Streichkäse, das Sandwich getoastet oder nicht getoastet haben möchte. Ich verfolge die Unterhaltung, reagiere jedoch nicht. Sonst immer so beschissen nett zu allem und jedem, ist es mir nun egal. Und da ist es schon wieder, das Gefühl. Ich will nur nach Hause und die Türe hinter mir zuziehen. Wochenende. Ende.
Jetzt belegt der Sandwichmann das Weißbrot. Bei der Soßenwahl bleibe ich souverän. Die Frau ist unschlüssig, überlegt hin und her. Es ist so offensichtlich, was wäre schon dabei, ihr zu helfen? Doch ich reagiere nicht. Der Sandwichmann bricht nun meine Sturheit. Ich will es nicht, aber das ist wohl der Teil der Geschichte, von dem im Nachhinein behauptet wird, es war der Wink mit dem Zaunpfahl. Oder auch der Schlag mit dem Vorschlaghammer mitten ins Gesicht. Gleichwie, die Nachricht verpasst den Empfänger. Der Hinweis wird über eine andere Frequenz gefunkt.
Der Sandwichmann lächelt nun: „Nichts wissen? Fragen sie doch jungen Mann hier. Der kennt sich aus.“ Und deutet auf mich. Der „junge Mann“ überwindet sich zu einem Lächeln, deutet schwach auf das Soßenschild. Und so spricht er dann auch. „Honey Mustard ist gut.“ Der Rest ist Beschwichtigung, mehr oder minder höfliches trallala: Man könne natürlich jede Soße nehmen, sind irgendwie alle lecker. Und wenns ihnen dann nicht schmeckt, können sie ja die Schuld auf mich schieben, der junge Mann hat schließlich gesagt, diese Soße sei lecker und jetzt schmeckt sie ihnen nicht, da ist ja dann wohl der junge Mann dran schuld. „Ja, Honey Mustard ist lecker“, wiederhole ich langsam. Im Gesicht der Frau zeichnet sich langsam die Unsicherheit darüber ab, ob sie sich wirklich so ungeschickt anstellt oder ob der Soßenerklärer vor ihr einfach nur ein Vollidiot ist.
Mein Sandwich geht zuerst über die Theke. Ich zahle, fingere allerdings noch etwas länger im Geldbeutel herum, sodass wir gemeinsam den Laden verlassen. Sie geht an mir vorbei, lächelt mich an, strahlt mich an. Ein tausend Dinge schwärmendes Strahlen. Drei Sonnen gehen in ihrem Gesicht auf, je näher ich zu ihr komme; sie lehnt an der geöffneten Ausgangstür und wartet, gefühlte eineinhalb Minuten lang auf eine Antwort. Eine Reaktion. Irgendwas. Und was sage ich? „Lassen sie es sich schmecken.“ Und das so sachlich staubtrocken, dass selbst dieses süße, saftige Lächeln in ihrem Gesicht mit einem Schlag zerbröselt. Blechern bimmelt die Türglocke, während ich allmählich begreife, dass diese Augenblicke der Kontaktaufnahme mit einer Fremden, diese ungeteilten Aufmerksamkeitssekunden, in denen beiden bewusst ist, dass nun etwas Entscheidendes folgen wird, doch sehr kurz sind. In diesen Augen-Blicken spiegeln sich die Gedanken hinter der Fassade. Kommt es zum Ausbruch, ist es gut. Oder man ist knapp gescheitert, was wiederum schlecht ist. Bleibt man verhalten und verstellt, macht man sich eine Ewigkeit Vorwürfe.
Lassen Sie es sich schmecken? Ganz falsche Schublade. „Entschuldigung, ich würde gerne zusammen mit dir das Sandwich essen. Hast du was vor? Hast du Lust?“ DAS wäre die richtige Antwort gewesen. Erdreiste ich mich sonst zu keiner anderen Blödigkeit, war das hier eine Sternstunde. George Costanza aus Seinfeld hat ein unglaubliches Talent dafür, jede Kontaktaufnahme mit einer Fremden grandios zu vermasseln. Costanza ging in meine Schule.
Da geht sie nun, noch eine ganze Weile vor mir her. Ich zerfließe fast. Und bevor das passiert wechsle ich die Straßenseite, anstatt zu ihr aufzuschließen und sie anzusprechen. Unruhiges Gemurmle in meinem Kopf: „War sie das jetzt? War das jetzt meine Bestellung? Die Frau, die ich kennenlernen sollte? Geh rüber. Komm, sag diesen Satz, sag dein kleines dummes Sprüchlein. Ist doch egal wenn sie antwortet: Nein, tut mir leid, ich muss zur Arbeit oder nach Hause oder in die Innenstadt, ich treffe mich dort mit meinem Freund. Ah, jetzt ist sie weg, ich sehe sie nicht mehr. Hoffentlich hatte sie einen Freund, sonst mach ich mir ewig Vorwürfe.“
Ich mache nichts. Biege in die nächste Straße ab, Richtung U-Bahn, gehe nach Hause. Im Schaufenster vor mir hängt ein Bild von einer Frau im Hochzeitskleid. Polierte Hochglanzidylle. Natürlich tauchen jetzt überall die vermeintlichen Symbole einer verpassten Gelegenheit auf, keifende Geier spotten von jedem Dachgiebel herab. Kommt schon und holt euch den Braten.
Im Nachhinein betrachtet war der Sandwichmann Gott. Oder er war das Universum, je nachdem wie man es dreht. Es deutete auf mich, mit seinen großen, nach Salami und Zwiebeln und Jalapeños riechenden Fingern; es schlug die Brücke zwischen diesen beiden Menscheninseln. „Fragen sie doch jungen Mann hier. Der kennt sich aus.“ Und was sagt der junge Mann? „Lassen sie es sich schmecken.“
Abends, halb sechs. Die U-Bahn ist voller Menschen, die in ihren Köpfen schon längst wieder in einer andere Rolle stecken. Der des fürsorglichen Ehemanns, der Geliebten oder der Mutter. Auf mich wartet keine Rolle. Wenn ich nach Hause komme, dann ist immer alles so, wie ich es verlassen habe. Nichts ist umgestellt, nichts verrückt. Niemand, der den Orangensaft leergetrunken, der seine Kleider auf dem Bett liegen gelassen hätte. Nur ab und zu bringt meine Mutter etwas Obst vorbei. Wenn sie in der Gegend ist nimmt sie mal ein Netz Mandarinen mit und legt es in die blaue Tonschale auf dem Tisch. Oder eine Ananas. Das bringt Leben in die Bude.
Sicher, eigentlich bin ich gar kein Single. Alles eine Frage der Definition. Ich bin halt einfach nur schon etwas länger auf der Suche. Diese Situation ist vorübergehend. Seit fünf Jahren vorübergehend. Abends sitze ich dann mit Schiller, Rooibostee und Wärmflasche auf dem Bett. Mein Magen macht zur Zeit Scherze. Schlechte Scherze. Heute wird die Wärmflasche auch wieder schneller kälter, als mir eigentlich recht ist. Teufel, wir sind so naiv in unserem Leiden.
Ich glaube, „Lassen sie es sich schmecken.“ wird auf ewig ein Satz sein, den Du nicht wieder hören willst…
Harte Geschichte, wie immer 1a geschrieben und mit mehr als passender Überschrift versehen.
Hat off.
Greets,
Olli