Große Schritte, Hektik, Rempeln, Daunenjackentaubheit. Die Zeit läuft auf Weihnachten zu und die Menschen laufen und sprechen in ihre Handys, in der Stadt, in der U-Bahn und was sie sagen klingt fremdartig, wie die Versprechen von Werbeprospekten manchmal fremdartig klingen. Den Panasonic DMR-EX, den sich dieser oder jener wünscht, besorg ich noch, kümmere du dich bitte um das Chanel; das Samsung Galaxy S6, wegen der tollen Fotofunktion, weil irgendein Bernhard doch so gerne fotografiert, aber die größere Plus-Version, weil besagter Bernhard doch so dicke Finger hat; ach ja, ach ne, nicht so wie letztes Jahr, das machen wir diesmal anders, gemütlicher und dazwischen wird andächtig auf Bratwurstsemmeln herumgekaut und Abends hängt über allem der süßliche Geruch von Alkohol und Kardamom.
Dann, am Abend sind die Dutzendmenschen so betäubt vom Tagesgeschäft, dass sie nicht mal mehr geradeaus blicken können. Ich bin in der U-Bahn und um mich herum: Abgeschlagenheit und geistige Isolation.
Sie sehen so seelig aus, wie sie in ihre Smartphones starren und von einem Leben in Extase träumen, von Intensität und Verbundenheit. Sie nennen es Sinnsuche oder etwas Übergeordnetes und lassen sich verführen. Der Mann neben mir ist wahnsinnig gutgekleidet und sehr gepflegt aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass er es weiß. Er sitzt mit seinem die Mitmenschen prüfendem Blick da, wie einer nur dasitzen und blicken kann, der genau weiß, dass er nach allen Regeln und Normen wahnsinnig gutgekleidet und gepflegt ist. Er kaut so nervös auf seinem Kaugummi, dass es mich auch ganz nervös macht. Nächster Halt, nächstes Aushalten.
Schleifende Geräusche von Metall, die im Trommelfell kitzeln, Trägheitsverzögerung. Die Stehenden neigen sich synchron in Fahrtrichtung wie Gerstenhalme, durch die der Wind fährt. Duldungsstarre in den Gesichtern und die Gewissheit, dass der Tag morgen sie wahrscheinlich wieder jagen und wieder überrollen und ziemlich sicher auch die restliche Leidenschaft aus ihren Leben saugen wird.
Ihre Haltung ist gebückt. Müdigkeit zieht die Gesichter der Dutzendmenschen in die Länge. Wie viele gute Künstler, Babysitter, Redner, Tänzer oder Musiker gäbe es, wenn nicht alle vor dem Ertrinken rudern würden, um sich irgendwie durchzukämpfen? Wenn sie in ihrem Element wären anstatt Dinge zu tun, die ihnen ihre Kraft raubt und sie zu tumben Sklaven der Sensation macht? Dutzendmenschen, die viehisch geradeaus starren oder in ihre digitalen Glaubensbücher, die sie wie Bibeln in ihren aufgefalteten Händen halten.
In dem Aufsatz »Die Acker der lebenden Toten« beschreibt Paul Herden Horden von Arbeitnehmern (die eigentlich Arbeitgeber heißen müssten, weil sie ja ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen), die wie Zombies durchs Leben irren: »Tüchtig, aber ziellos wandeln sie arm an Welt und auf sich zurückgeworfen über die kaputten Äcker einer untergehenden Erde, mit lebendigen Körpern, aber totem Geist.«
Der Abendspaziergang durch die Stadt, das Neonlicht aus den Geschäften, Menschen, die wie Fliegen angezogen werden. Große Schritte, Hektik, Rempeln, Daunenjackentaubheit. Die Zeit läuft auf Weihnachten zu und die Menschen laufen hinterher. Es wird eng.
»Das Sympathischste an den Fischen ist ihre konstante Niedergeschlagenheit. Es gibt den fröhlichen Fisch nicht. Der Fisch schaut immer so, als denke er gerade an den einen Moment, wo quasi seinesgleichen aus dem Wasser ans Land liefen. Für Amphibien heute ist das ein unvergesslicher Glücksmoment, für die Fische ein großes Trauma. So was ist völlig unverarbeitbar.«
„Die immens glückseligen deutschen Flüsse”, Saša Stanišić
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Floh Poschenrieder
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