Das ewig Scheiternde zieht uns an

Die Hölle stelle ich mir vor wie das Zillertal. Oder wie die Tulpenfelder Hollands, oder die Passionsspiele in Oberammergau. Oder wie St. Moritz im Sommer. Jeden zweiten Tag ein neunstündiges Passionsspiel. Dazwischen ein Tag Musik angesichts von Tulpen. Jeden Abend ein Konzert der Wiener Sängerknaben oder der Regensburger Domspatzen, wenn das nicht überhaupt dieselben Knaben bzw. Spatzen sind. (…)
Im Angesicht der Natur, in Holland in Form von einer Milliarde Tulpen, in St. Moritz in Form von Bergwelt, und zwar zugleich lieblich und majestätisch, bzw. grandios, also in ihrer gefälligsten populärsten Variante, sitze ich – verzeih mir die grausige Ausmalung – bei Campari-Soda, zähle die beginnenden Hautkrebse meiner Mitmenschen und versuche, ihre Lebenserwartung abzuschätzen, denn alle sitzen sie ja da, in Erwartung des Lebens, deren frohes Erschauern sie stets wieder von neuem überkommt, allerdings wohl nicht mehr lang.

 

– „Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes“, Wolfgang Hildesheimer, 1985

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