… zur Zweitimpfung
Von Spritzen wurde ihr schon immer schlecht. Und Blut kann sie eigentlich auch nicht sehen. Wenn sie Blut sieht, dann fällt sie ganz schnell in Ohnmacht. „Müssen Sie jetzt zwei mal spritzen?“ Ihre Stimme zittert, im Magen ein flaues Gefühl, es geht schon los, er grummelt und murrt.
Es ging schon los, als sie die Praxis betrat, mit dem festen Vorsatz, bei dieser Impfung nicht gleich aus den Latschen zu kippen. Mit fahrigem Blick sah sie sich nach einer Liege um. Zwei Wochen hatte es gedauert, bis sie sich zur Impfung durchringen konnte. Und nun sollen gleich zwei Spritzen gesetzt werden. Zwei Impfungen, in einem Aufwasch. „Das haben wir gleich, geht ganz schnell, nur zwei kleine Piekser“, versichert der Arzt, so verdammt vertrauensvoll nickend – dabei hält er seine Augen geschlossen, während er die Flasche mit dem Desinfektionsmittel öffnet und ihr der beißende Geruch in die Nase steigt.
Sie wendet sich ab, sieht auf den rauen Putz der Wand, als die Nadel sich in ihre Vene bohrt. Und fühlt nichts. Und auch bei der zweiten Spritze konzentriert sie sich, diesmal auf die Musterung des Plastikbezuges der Liege. Schmerz hat eine andere Qualität, wenn man ihn erwartet. Doch es kommt, was kommen muss, obwohl sie diesmal überhaupt kein Blut sieht. Alleine die Vorstellung, dass etwas fremdes, spitzes in ihren Körper eindringt reicht völlig. Die Farben der Welt verblassen, erstaunlich schnell geht das; der Arzt redet noch weiter, doch klingt seine Stimme dumpf, unwirklich, wie von ganz weit her geflüstert, von Engelsschwingen an ihr Ohr getragen. Oder wie durch eine dicke Wolldecke gesprochen. Dann fällt sie ihn Ohnmacht, die Gischt eines fremdartigen Traums schlägt über ihrem Kopf zusammen. Und sie wacht erst mit den sanften Wiederbelebungsversuchen des Arztes auf, der vorsichtig aber bestimmt ihre Wange tätschelt.
Als sie die Praxis mit bleichem Gesicht wenig später verlässt, blickt sie in das Wartezimmer. Von zehn Patienten sitzen acht mit einem Impfausweis in der Hand auf den cordbezogenen Stühlen. Denn eines, und das ist unbestreitbar: Der Trend geht hin zur Zweitimpfung.