Eine ausserordentlich dringliche Leseempfehlung: Wolfgang Herrndorfs Blog Arbeit und Struktur.
„In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ schreibt der schwerkranke Autor Wolfgang Herrndorf über sein Leben mit einem Gehirntumor. Der Autor schont dabei weder sich noch den Leser.“ Wer über diesen arg plakativen Zeit-Artikel stolpert und nicht weitergeht, übersieht meiner Meinung nach einen der Autoren-Blogs, die mich in diesem Jahr am meisten bewegten.
Den Lesern dieses Blogs wird viel vorgeworfen: Sensationsgeilheit, Siechtumschau, Niedergangsvoyeurismus. Für mich sind diese Unterstellungen jedoch bloß Hülsen; schöne Kompositas, die manche als Hilfsmittel brauchen, manche vielleicht sogar benötigen, um dem Thema überhaupt irgendwie beizukommen; um die Gefühle irgendwie in den Griff zu bekommen und am Boden zu bleiben. Wenn damit eine „mitleidsgeile Leserschaft“ bedient wird, wie in den Kommentaren des Zeit Online Artikels geschrieben: bitteschön. Für mich ist Herrndorfs Blog eine Katharsis, denn er lässt mich mein Leben in seinem Spiegel besser begreifen.
Und – ohne dass ich jetzt pietätlos sein will – es ist einfach scheißekomisch, wenn der Autor über den Dorotheenstädtischen Friedhof schlendert und Überlegungen zu seiner Grabsteininschrift anstellt.
„Weitermachen!” steht bei Marcuse; was im ersten Moment ja erstmal irgendwie okay klingt. Aber dann doch auch wieder nicht. Als ob da einer das Konzept nicht verstanden hat.
Und was wünscht man sich selbst so? Hier ruht für immer? Für immer tot? Haut ab und besauft euch im Prassnik, ich zahl? Was ich vermutlich gut fände: starb in Erfüllung seiner Pflicht. [Anm.: „Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich.“ wäre mein Favorit.]
Die banalsten Begebenheiten bekommen plötzlich eine groteskes Schimmern, wenn sein Mobilfunkanbieter zum Beispiel mitten in der Nacht das Ende seines Bonus-SMS Kontingents übermittelt, ist das vielleicht ein gewöhnlicher Prozess, der in Anbetracht seiner Situation jedoch wie ein Menetekel wirkt: Die Prozesse um dich herum laufen aus, so wie dein Leben ausläuft.
Man mag in Anbetracht der vernunftsezierenden Befunde der Ärzte („Wenn ich ein Glioblastom hätte, würde ich nach Hause gehen.“) irre werden. All das ist absurd, aber es gibt Hoffnung: Dass ein Leben doch möglich ist, dass die Vorstellung daran in so einer Situation sogar zwingend nötig ist, schließlich geht es ja irgendwie weiter.
„Und immer wieder vergesse ich die Sache mit dem Tod. Man sollte meinen, man vergesse das nicht, aber ich vergesse es, und wenn es mir wieder einfällt, muß ich jedes Mal lachen, ein Witz, den ich mir alle zehn Minuten neu erzählen kann und dessen Pointe immer wieder neu und überraschend ist. Denn es geht mir ja gut.“
Allen Lesern dieses Blogs rate ich, zu diesem ersten Beitrag zu gehen und mit dem Lesen anzufangen. Wolfgang Herrndorf wünsche ich für die Zeit, die ihm noch bleibt, gute Tage ohne Stimmen im Kopf und epileptischer Anfälle und dem Gefühl, dass es nicht egal war, dass man da war auf dieser Welt.
(Gefunden via Wolfgang Herrndorf: Das Ding im Kopf | Kultur | ZEIT ONLINE)