Ein Einbeiniger auf dem Fahrrad. Rostfarbene Blätter, die vom Wind über den Asphalt getrieben werden und dabei ein Geräusch heranlaufender Hunde erzeugen, deren Krallen lange nicht geschnitten wurden. Ein Ginkobaum, dessen Blätter vom Herbst so leergesaugt sind, dass sie vor dem Blau eines wahnsinnig übertrieben wolkenfreien Himmels superreal leuchten. Pochende Schläfen, schädeldeckensprengende Kopfschmerzen. Mama hat Geburtstag.
Aufstehen, orientieren, anziehen, zu Rewe. Es braucht: Brötchen, Milch, Kippen. Auf dem Rückweg wähle ich eine Sitzbank am Kanal, um den Dingen zuzusehen. Zwei Bänke weiter bedient ein Mann sein Smartphone, indem er auf das Display pustet. Ein Gebäude in der Nähe spuckt in regelmäßigen Abständen eine unbestimmte Zahl asiatischer Mädchen in schwarzen Kleidern mit Geigenkoffern in der Hand aus. Auf allem liegt der gelangweilte Schein der Herbstsonne.
Die Farbe meiner Kleider ist Tarnkappengrau, ich schleiche durch die Stadt, unterhalb des Radars und taste mich von hinten lautlos an die Dinge heran, an die Menschen, die nicht mit mir rechnen und vielleicht zerspringen oder bestenfalls bloß zurückschrecken.
Ein Mann steigt in sein Auto, mit der Zündung springt die Hupe an. Sie hupt ununterbrochen, bis er die Zündung wieder abstellt. Meine Uhrzeit ist die Uhrzeit von: Alten, Kranken, Mamas, Kindern, Pennern. Die Arbeitskräftigen sind beschäftigt. Ein Penner schlurft vorbei, in der Hand eine Porzellantasse der San Francisco Coffee Company, bleibt stehen, dreht sich um, kommt in meine Richtung, bleibt wieder stehen.
Er wendet sich zu mir:
„Machen sie ausser Leuten hinterherlaufen eigentlich noch was anderes?“
„Ich laufe mir nur selbst nach“, antworte ich. Penner lacht, Penner geht. Als seine Silhouette kleiner wird danke ich ihm still.
Die Ameisen in Nymphenburg überrennen mich. Am Kanal, auf den Bänken, auf meiner Bank sind es ganze Kolonien. Sie klettern über diesen grauen Zellhaufen, als sei er bloß eine weitere Sache in der Gegend. Manche schnippe ich mit dem Finger weg, wenn sie mich stören, doch meistens lasse ich sie weiterkrabbeln. Ich töte sie nicht, was kann denn schon die Ameise dafür, dass ich mich in einem Anflug absoluter Kurzentschlossenheit hierher setzte, sondern versuche, sie mal mehr, mal weniger zärtlich davon zu überzeugen, dass ihr eingeschlagener Pfad einwandfrei nicht richtig ist. Lasse mich still überkrabbeln. Ihre kleinen Beine erzeugen einen Wahnsinnskrach.
So sitze ich da auf der Ameisenautobahn mit meinen total irrationalen Gefühlen und lasse mich von beiden überkrabbeln.
Fühle, dass mir die Zeit abhanden kommt, wie einem eine Telefonnummer oder die PIN für den Bankautomat abhanden kommt. Aber erst, wenn man ihn bedienen und nutzbar machen will und dann mit der hoserunterlassenden Erkenntnis über das eigene Unvermögen dasteht. Und dann steht man da, mit der Erkenntnis und den heruntergelassenen Hosen, irgendwo zwischen verstehen wollen und handeln müssen, während die Leute zielstrebig an einem vorbeigehen oder hinter einem stehen und ihre Ungeduldigkeit auf die Seele presst.
Mir scheint die Zeit davonzulaufen, wie diese Ameisen immerzu weiterlaufen. Es gibt kein Attest eines Arztes, das mir etwas bescheinigen würde. Ich fühle das nur, wenn ich in mich und die Zeit hineinhorche: Stechen in der Brust, Schwindel, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Kurzatmigkeit, eine Menge anderer -keiten, totale Erschöpfung ab 13 Uhr. Attest: Ihnen läuft die Zeit davon. Das macht mich nervös, aber diese Erruptionen reichen scheinbar noch nicht, um ein Handeln auszulösen. Nächster Gedanke: Kardiologe.
Gestern gegessen: eine Scheibe Brot, eine Scheibe Käse, zwei überdurchschnittlich scharfe Pepperoni. Abends in der Dunkelheit der Küche noch eine Scheibe Brot. Sie schmeckte süsslich. Heute morgen gesehen, dass sie schimmlig war.
Ich lebe noch und freue mich.
Während mir der Wind weich wie die Hand einer Mutter übers Gesicht streicht wünsche ich den Ameisen einen guten Tag, stehe auf und gehe heim.
„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
– Samuel Beckett
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Nour-Elhouda Mokni
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Sille Nietz
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Uwe Prommer
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