Die Handschrift

Es war ein verregneter, dunkler Morgen, den man aus den hoch angesetzten, ausladenden Fensterfronten des ehemaligen Warenkontors sehen konnte. Frau Hagedorn, eine leicht verhärmte Frau von vierzig Jahren, die ihr spärliches Haar straff zusammengebunden trug, durchmaß den durch Gaslichter spärlich beleuchteten Raum. „Ich stelle hohe Anforderungen, welche ich Sie zu erfüllen ersuche.“ Ernst blickte sie jetzt die dreiundzwanzig pausbäckigen Mädchengesichter an. „Wir werden uns von Kapitel zu Kapitel stetig steigern!“

Amelie blickte derweil versonnen auf das vor ihr liegende buch mit braungesprenkeltem Einband: „Buchhaltungs- und Rechenwesen.“ Ganze zwei Reichsmark hatte es Vater gekostet. Behutsam öffnete sie es und schrieb mit zarter Schrift ihren Namenszug und das Datum an den rechten unteren Rand. Vor einem halben Jahr erst entschloss sich ihr Vater, sie doch eine Ausbildung machen zu lassen. Auf das wiederholte Drängen der Mutter hin bekam sie sogar ihre eigene dunkelrote Tasche neben dem vorgeschriebenen knöchellangen Schulkleid, bestehend aus dickem, dunkelgrauem Stoff mit weißen, gestärkten Stehkragen und Manschetten, welche fast bis zu den Fingern reichen. „Es sind unnötige Ausgaben, letztendlich heiratet ein Mädchen ja doch!“, empörte sich ihre kleine gebeugte Großmutter.
Morgens hätte sie fast verschlafen, da sie vor Aufregung die halbe Nacht wachgelegen war. Sie hatte sich ihre langen, lockigen Haare nur lose zusammenstecken können, um noch rechtzeitig das Pferdefuhrwerk zu erreichen.
Plötzlich spürte sie die angespannte Ruhe im Klassenraum. Da gewahrte sie Frau Hagedorn neben sich, in Augenhöhe zu ihr hinneigend: „Das werte Fräulein belieben zu träumen?“ Entsetzt spürte sie zudem, wie sich ihre Haarklammer langsam löste und einen Wust an goldblondem Haar freigab, der sich über ihr Gesichtund ihren Nacken ergoss. Im ganzen Raum widerhallte das Gelächter der zweiundzwanzig Mitschülerinnen. Frau Hagedorn richtete sich langsam auf, worauf das Lachen augenblicklich erstarb. „Äußere Liederlichkeit ist immer Ausdruck innerer Geisteshaltung – wenn sie weiter so zu erscheinen gedenken, wird es für sie recht schwer werden.“
Verstohlen bahnte sich eine Träne ihren Weg über Amelies Wange, fiel auf das noch offene Lehrbuch und benetzte den Anfangsbuchstaben ihres Namens, so dass die Tinte verwischte.

Abermillionen Staubkörner tanzen in der strahlenden Morgensonne, als Hilde Ehlers in der Kirchernvorhalle mit einem Packen Bücher über unwegsame Kistenberge stakst. „Sind schon wieder Bücher vom Altenheim dabei – scheinen schon wieder welche den Löffel abgegeben zu haben.“ Inge Rauschenbach sichtet mit geübtem Blick die vor ihr liegenden Kisten. „Das Übliche: Fünzig Jahre Schrott. Meterweise Simmel – den kauft heute niemand mehr…“ Sie ergreift ein schmales, braungesprenkeltes Buch. „Buchhaltungs- und Rechenwesen – oh Gott! – weg damit!“
„Inge, aus welchem Jahr ist es?“
„Hildchen möchte sich also weiterbilden?“, zischelte Inge süffisant. „Da steht nix – ah – doch, ein Name: …melie, Amelie Hillenkamp, 9.9.1911.“
„Was muss das für ein Leben gewesen sein? Zwei Weltkriege, die Inflation und so…“
„Jaja.“, antwortet ihr Inge abwesend, während sie das Büchlein in hohem Bogen in die bereitgestellte Müllkiste schleudert, dass es zerfleddert aufschlägt.

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