Man malt sich oft aus, wie man die Gespenster der Vergangenheit, sollten sie unerwartet vor einem stehen, vertreiben oder verprügeln würde. Der Freund, der sich in dasselbe Mädchen verliebte, der Lehrer, der einen vor der Klasse demütigte oder, oder, oder.
Es sind die großen und kleinen Kränkungen, die nicht weichen wollen und sich in lauen Momenten ins Gedächtnis schleichen. Man denkt, man könnte sie dadurch überwinden, dass man über sie redet, aber das stellt sich als eitle Hoffnung heraus. Die, denen wir unsere Geheimnisse (es sind Geheimnisse die wir hüten, wie Narben aus einem vergessenen Krieg) anvertrauen um in ihren Augen Gnade oder Zuneigung zu finden, verstehen uns meistens nicht. Sie können nur das verstehen, was sie selbst, zumindest in ähnlicher Form erlebt haben. Das Bett löst die Zunge und wir verraten dort fast alles um Gnade zu finden, in den Augen oder (das Licht wird gelöscht) in den Armen des anderen, der uns mit verstehender Stimme sagen soll, dass wir von den Dämonen erlöst sind, die auch er kennt.
Vor Jahren lag ich mit einer Frau in einem Bett in einem Hotel in einer Stadt, die für uns beide fremd war. Wir redeten über die üblichen Dinge, vergangene Liebschaften, die im Licht der Gegenwart immer ein wenig lächerlich und vergebens wirken, über Dinge, die uns oder gemeinsamen Bekannten zugestoßen sind. Es liegt oft ein wenig Verachtung darin, wenn man mit einem vertrauten Menschen über das Unglück eines Menschen spricht der früher der Vertraute war – wir verraten die Vergangenheit.
Ich lag neben der Frau, die nicht mehr so nackt war, wie noch vor ein paar Stunden, als es dunkel war und wollte, dass sie mich versteht, oder vielmehr, dass sie mich so sieht, wie ich mich selbst sehe und gesehen werden möchte. Immer will man mehr sein als man ist, der Clown will, dass man seine Meinung über die Politik eines x-beliebigen Landes anhört ohne zu lachen, der Hässliche will, dass man seine zarte Seite sieht, die er nicht zeigen kann, aus Furcht vor dem Spott. Auch die, die mit dem Bild, das sie in der Öffentlichkeit abgeben zufrieden sein könnten, wollen mehr sein als dieses Bild. Der Gutmütige will geheimnisvoll wirken und der Sanfte wild. Ich wollte in einem Moment der Wilde sein, der der Frau neben mir zeigt, dass ich als Kind und Jugendlicher alles andere als brav war, als müsste ich betonen, dass ich Fabrikhallen angezündet und Autos demoliert habe. Sie hörte freundlich interessiert zu, aber ich konnte eben nicht aus meiner Haut. Es gibt Menschen denen man sofort glaubt, dass sie als Jugendlicher Fabrikhallen angezündet und Autos demoliert haben, man kann sich bei ihnen eigentlich nichts anderes vorstellen, als solche Beschäftigungen und dann gibt es die anderen, bei denen man es sich zwar vorstellen kann, es einem aber dennoch überrascht und man fragt gleich: Wie konnte dir denn das passieren? So als ob man durch seltsame Zufälle in eine Situation gerät, die dem Naturell, das man hat, nicht entspricht. So war es bei mir, ich wirkte zwar nicht wie ein Chorknabe (ich kannte tatsächlich einen Chorknaben, den ich nicht ausstehen konnte) aber auch nicht wie ein Brandstifter, ich lag irgendwo im Bereich dazwischen, wie die meisten, und im Alltag war ich damit auch immer zufrieden, aber im Bett mit einer Frau will man mehr sein als man ist, deswegen die Geschichte mit dem Brand und den demolierten Autos, die zwar wahr ist, aber nicht typisch für mich.
Später beschrieb ich der Frau eine Situation aus meiner Schulzeit. Es war der Tag der Zeugnisvergabe, ein Termin der während meiner gesamten Schulzeit ein Tag der Spannung und Angst war. Der Lehrer stand am Pult gelehnt vor der Klasse, die Zeugnisse in der Hand. Er rief nach und nach die Namen der Schüler auf, die dann das Zeugnis bekamen, dazu sprach er den ein oder anderen persönlichen Kommentar: Anita, du bist fleißig, aber in Deutsch kannst du mehr, Patrick, du könntest in Mathematik viel mehr als du zeigst, Simone, eine Eins in Sport, sehr gut. So ging es vor sich, der eine wurde gelobt, der andere ermutigt, mancher ermahnt. Am Ende hatte er nur noch ein Zeugnis in der Hand und da ich noch nicht an der Reihe war, musste es meines sein. Statt es mir mit einem Lob oder Tadel zu überreichen tat er allerdings etwas anderes. Er stellte sich vor mich, nahm mein Zeugnis in beide Hände und zerknüllte es, dann hob er es hoch, zeigte es der Klasse und sagte, dass er meine letzte Schularbeit so zerknittert zurückbekommen habe, wie es nun das Zeugnis sei, dann reichte er mir das zerknitterte Blatt und fragte mich, was ich meinen Eltern sagen würde, wenn sie mich fragen sollten, wieso das Zeugnis so zerknittert sei. Ich antwortete leise, sehr leise, dass ich ihnen sagen würde was geschehen sei, wusste in dem Moment aber was das bedeuten würde. Ich müsste ihnen die ganze Geschichte erzählen und sie würden sowohl vom Zustand meiner Schularbeit erfahren als auch von deren Existenz, die ich vor ihnen lieber geheim gehalten hätte. Darauf sagte er, dass meine Eltern mir das wohl kaum glauben würden und dass er, sollte man ihn fragen, sagen würde, dass er mir das Zeugnis in tadellosem Zustand gegeben hätte. Dann schaute er die Klasse an und fragte ob von ihnen denn einer gesehen hätte, dass er mein Zeugnis zerknittert habe. Keiner sagte ein Wort, nur einer, er schaute den Lehrer ebenso fragend an wie der Lehrer die Klasse und sagte: Wie, was ist denn passiert? Ich habe nichts gesehen. Danach herrschte Schweigen im Klassenzimmer, der Lehrer zuckte bedauernd die Schultern und sah mich an, ich schaute die Tischplatte an, ich weiß nicht wie lange, irgendwann ging er dann zum Pult und zog aus seiner Aktentasche ein Blatt, das sich als mein echtes Zeugnis herausstellte, das zerknitterte war eine Kopie gewesen. Dieses Erlebnis hatte ich der Frau erzählt, die mit mir im Bett lag, sie zuckte die Schultern und meinte, dass Lehrer manchmal blöd wären.
Mehr sagte sie nicht.
Text: Marcus Ertle