Mit zwei Scheiben Brot, vier Tassen Kaffe und einer reichlich überzogen naiven Vorstellung von dem, was dieser Tag so alles bringen könnte begann Foster. Oftmals ist eine große Portion Unbedarftheit zwingend notwendig, um nicht mit einem Kniefall aus dem Bett heraus zu beginnen und reumütig um den Tag herumzuschwänzeln, wenn er die ersten Strahlen durchs Fenster wirft; wie ein Demutsköter, der sein Herrchen scheut, bloß weil es die Hand hebt.
Der Morgen ist für Foster die Nacht der Seele. Die schlimmste Tageszeit, psychisch. Dementsprechend vorsichtig muss sie angefasst werden, sonst kommt es zu Eskalationen und das kann nicht absehbare Folgen für den weiteren Verlauf des Tages haben.
Es musste also genau die richtige Dosis Unbedarftheit und Honigbuttertoast gewesen sein, denn er schaffte den Tag und nicht umgekehrt, was oft genug passierte. Das merkte er aber zumeist erst dann, wenn der Abendvorhang fiel, samtschwer und purpur und ihm das Tagesgeschäft so auf die Nerven ging, dass ihm am Ende jedes einzelne Haar wehtat. An seiner Sensibilität für die Effekte strapaziösen Borderline-Journalismus musste er noch feilen, soviel stand fest, sonst würde er ziemlich bald von einer koronaren Herzkrankheit, einem ischämischer Apoplex oder den Folgen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit dahingerafft werden, egal ob er dann noch der Risikogruppe der Schreibenden, der permanenten Selbstzweifel ausgesetzten Anpassungshelden angehören würde oder nicht.
Die Luft war spiegelkalt und die kühle Bedeutungsschwere der Nacht lag noch auf den Straßen, waberte als Nebel über der Asphaltstadt, als sich die Schemen alltäglicher Morgenroutine der Dinge feingliedrig wie Spinnenbeine ihm entgegenstreckten. Trambahnen und Autos und Busse, Relais und Hupen und Vergaser. Und dazwischen Menschengezwitscher und Vogelstimmen, schreckhafte Geräusche, die sich aus dem mechanischen Morgegrummeln vorsichtig herausschälten, als seien sie nur eine unwirtliche Interpretation der Realität; eine mögliche von vielen, ein karger Verdruss der Wirklichkeit. Es würde Großes passieren, die Zeichen waren eindeutig. Und Foster musste sich beeilen, um heil aus dieser Sache heraus zu kommen.
Diese Stadt kriegt uns noch, sie steckt uns tief in den Knochen.
Wir können von Glück reden, wenn wir an einem Stück hier raus kommen.
Alles begann mit großer Gelassenheit. In zwei Tagen würde das Oktoberfest beginnen. Das Millionendorf hübschte sich zu zweieinhalbfacher Größe auf, drehte die schillerndsten Pfauenfedern nach aussen und kehrte die Obdachlosen mit breitstrahligen Hochdruckreinigern vom Trottoir des Bahnhofs zurück unter die Brücken. Binnen zweier Tage würde hier der Wahnsinn ausbrechen und man merkte jetzt schon, wie ihre Behälter langsam vollliefen. Da musste man kein großer Aufmerksamkeitskünstler sein, es reichte aus, sich vor die Bahnhofshalle zu stellen und dabei zuzusehen, wie die Menschenwellen endlos an die Sicherheitsabsperrungen vor der Stahltristesse des Ausgangs brandeten. Nimmermüde Rolltreppenwürmer, die sich durch den Beton fraßen, schraubten die Horden auf dem Rücken ihrer gezackten Glieder auf die oberen Ebenen oder, diametral entgegengesetzt die Unteren.
Auf dem Rolltreppenwurm, auf dessen Rücken Foster hohlkreuzig wie eine don-quijoteske Karikatur stehend in den Untergrund ritt, statt Schild und Harnisch ein wohlwissendes Siegermienenspiel zur Schau tragend, es stünde der Untergang des Abendlandes kurz bevor und nur er allein könne sich mit seinem ganzen Gewicht lanzenspießend der Gefahr entgegenlehnen, um sie aufzuhalten, roch es nach getrocknetem Schweiß und Erbrochenem. Die stummen Zeitungsdiener waren voll von Sensation, blieben an der Oberfläche zurück und verschwanden bald aus seinem Sichtfeld. Am Bahnsteig des Untergrunds flanierten und posierten sie alle wie Wild, es war das Zenit der Balzzeit längst überschritten.
Foster hatte sich für diesen Tag nichts vorgenommen. Es war also eher ein Schlendern, ein wenig Taumeln, ein Strawanzen war es; es war ein ohne Ziel, ein ungerichtetes Wandern. Ankommen war nicht Bestandteil des Plans, den es nicht gab.
Dann ein elektrisches Warten auf die U-Bahn. Foster setzte sich. Die Sitzbänke in den U-Bahn Hallen sind zu hoch für ihn, sind immer zu hoch für ihn, egal in welcher Stadt er auf die U-Bahn wartete. Nicht viel, nur ein kleinwenig, vielleicht fünf oder sechs Zentimeter zu hoch aber immer so viel, dass seine Füße nur mit den Spitzen, allerhöchstens mit den Fußballen aufstanden und das Metallgitter der Sitzfläche unter dem Gewicht der Oberschenkel karierte Muster ins Fleisch drückte.
In der U-Bahn hatte er immer einen unendlichen Spaß daran, die Menschen einfach nur zu beobachten, wie sie scheinbar durch die Fenster in das gedankenschluckende Untergrundschwarz hinausstarrten, in Wirklichkeit jedoch durch spiegelreflexion ihre Blicke nach Innen gelenkt wurden und sie inkognito wie Alltagsagenten die Privatssphäre der Anderen observieren konnten, die ihrerseits wiederum das Selbe taten.
Zeitumstellung machte die Menschen depressiv, sie schnarrten und gurrten und manchmal konnte ein Tag eine einzige Freakshow sein, in der Foster nicht immer nur zweckfreie Staffage war und zu allem Übel ständig daran zweifelte, ob nun er und diese menschlichen Subjekte um ihn herum überhaupt etwas gemeinsam hatten, ausser der Anzahl der Chromosomen vielleicht. Es waren sich fremde Planeten und sie drehten sich noch nicht mal im gleichen Sonnensystem umeinander.
Und dann riss er wieder Schubladen auf: Da waren schamgetriebene Freizeit-Spiritualisten, die eine gefühlte Ekstase mitsamt Nahtoderfahrung erleben, wenn der Regen seitlich kommt (Grass würde sagen: im Krebsgang. Krass); denen die viehische Hysterie der Schweinegrippefurcht von den Ankermännern des bundesdeutschen Vorabendprogramms ins Gesicht diktiert wurde.
Andere wiederum bewahrten in ihrem Gesichtsausdruck eine spartanische Makellosigkeit, die mit nichts zu ersetzen ist. Ihre Gesichter sind porzellan: Das sind die, die noch nicht aufgegeben haben zu glauben. Wieder andere hüllten sich in einem stoischen Schutzschein ein, durch dessen Hülle allerhöchsten trübe Augenblicke drängen: Das sind die, die noch nicht angefangen haben zu glauben. Sie bringen den Tag auch irgendwie rum, wenn er sie nicht zuvor umgebracht hat, was sie sich aber oft hinter vorgehaltener Hand wünschten (und wenn sie wirklich ehrlich waren: permanent). Bis sie sich schicksalsergeben wieder irgendwie am Ende des Tages aus der Sache lavieren. Ihre Mundwinkel rissig sind von der trockenen Luft der Klimageräte. Und sie große Augen bekommen, wenn man ihnen ihr schlechtes Gewissen über die Bedeutungslosigkeit ihres Daseins langsam ins Bewusstsein träufelt. Sie halten ihre Köpfe gebeugt, daran erkennt man sie, als zerre eine unsichtbare Sinnlosschwere sie zu Boden. Ein Nachgeben.
Foster griff in seinen Rucksack, holte einen Stift und ein schwarzes Notizbuch hervor und begann zu schreiben, denn es rumorte. Jetzt musste er schreiben, nichts verstellen, nichts verstecken, nichts dergleichen.
„Montag. Fühle mich enorm. Ich bin ein sehendes Etwas und das Licht geht durch mich hindurch, geht durch mein Auge und fällt auf meinen Schirm, meinen dunklen Schirm und belichtet etwas. A scanner darkly. Dann, ganz am Ende dieses Prozesses kann ich das so zu Wort erstarrte Bild präsentieren. Ich bin der Laborant:
Entwickeln, Unterbrechen, Fixieren, Wässern, Trocknen.
Doch dieses Bild ist nicht statisch, es bleibt nicht starr; es stößt im Kopf des Lesenden ein Gedankenspiel an und das läuft dann und werkelt dann geräuschlos wie ein Perpetuum mobile des Geistes vor sich hin.
Was mache ich da eigentlich in der Stadt? Ich suche Bilder.
Bildersucher.
Menschenbilder.
Und ich finde Geschichten.
Geschichtenfinder.
Geschichtenerfinder.
Manchmal lebe ich davon,
manchmal kann ich nur so überleben.
Später dann am Institut.
Nach 10. Stunden Vorlesung, zuviel Kaffee. Genaugenommen eigentlich nur Kaffee, mal von dem liederlichen Hongitoast heute Morgen abgesehen. Zuviel Koffein, ich fühle mich euphorisch, „aufgebracht“ ein altes Wort; beseelt, naja. Leicht zittrig, es ist halb 6 und ich sitze in der Schellingstraße, dt. Philologisches Institut, Vordergebäude. Heute morgen in der U-Bahn, da war ich superflüssig. Mein Bewusstsein ergoss sich über das Holzimitatfurnier der Innenbekleidung des Wagons, die Kunstplastiksitze, die Menschen; ich war superfluides Bewusstsein. Ich stieg dann aus. An solchen Tagen, da schmerzt meine Leiste. Eigentlich schmerzt sie an jedem Tag, aber an solchen Tagen besonders. Wenn ich viel unterwegs bin oder viel sitzen muss, entwederoder. Sportverletzung. Vom Laufen. Jetzt kann ich das auch mal behaupten (scheiss Attitüde). Manchmal ist der Schmerz da und er ist stark, läuft durch den Oberschenkel hinab ins Knie. Und manchmal ist alles friedlich.
Fange an, Infinite Jest zu lesen.
Die Kreativität zu Schreiben überfällt mich. Es ist ihr egal, wo ich gerade stecke oder was ich mache, das kann ich nicht planen und ich kann sie nicht bitten zu warten. Wenn sie da ist, muss ich handeln und schnell sein, das Beste daraus machen. Ich erleide wirklich Schreibanfälle, wie Spastiken, wie Schluckauf. Ein Schreibschluckauf im Gehirn.“
Und damit war das Nötigste gesagt.
(y), wie man in Skype sagen würde, oder „well done“.
Btw: Die alte Kriegsverletzung, ja ja 😉