Chaostage vor dem Erstsemester. Die endgültige Entscheidung nach Berlin zu gehen um dort zu studieren traf Ron im März Nullneun, als er im Badezimmer vor dem Spiegel stand und versuchte, sich die Nasenhaare mit einer spitzen, aber furchtbar stumpfen Nagelschere zu stutzen. „Bitte fall jetzt nicht ins Klo! Bitte fall jetzt nicht ins Klo! Bitte fall jetzt…“ Platsch!
Und natürlich fiel die Nagelschere ins Klo, denn immer dann, wenn man besonders möchte, dass Dinge nicht passieren, passieren sie erst recht, so als ob sie es absichtlich täten. Damals wollte er nicht nach Berlin, er konnte sich noch recht gut an diesen Morgen erinnern; aber nur wenig später traf er eine Entscheidung und schuf Fakten. Der Kaffee tröpfelte gluckernd durch das aufgeweichte Filterpapier; Maschinenzischen, während sie die braune Flüssigkeit durch die verkalkten Leitungen drückte. Mühsames, aber treues Gerät.
Er stand mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel und seine Nippel wurden hart, der rosakräuselnde Hof drumherum bekam kleine Dellen und Spitzen, es war ja erst März und noch kalt und im Bad ging wieder mal die Heizung nicht. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, so weit nach hinten, dass er die Wölbung seiner Backen am unteren Sichtbereich als doppelte Geisterhügel wahrnahm; inspizierte die Tiefe seiner Nasenlöcher, der schwarze Schlauch in sein Hirn, aus dem all diese Gedanken flossen. Die Schere war entweder zu stumpf oder seine Nasenhaare zu borstig, jedenfalls kostete es ihm einige Mühe, drei giftig herausstehende Haare abzuschneiden, kurz bevor ihm die Schere aus den Fingern glitt und ins Klo plumpste.
Vor einem Jahr war er noch ein Seelchen, die Ruhe selbst. Er dachte, so schlimm kann das doch nicht werden: Erst Studienplatzsuche, dann einschreiben, hinziehen, reinsetzen, zuhören, bei Zeiten mal in den einen oder anderen Studentinnenpopo kneifen, qu’est-ce qu’il ya, ma chérie?, und sich auf ein enthaltsames, aber den Intellekt kitzelndes studentisches Dasein freuen. Allein schon deswegen sollte er Reisaus nehmen, neue Nervennahrung fürs Gehirn, Soulfood, kreativer Input, Drama, Baby! Er brauchte einen Tempowechsel, das monotone Gefühlsgeprassle hier ermattete ihn. Doch dann hagelte es die ersten Ablehnungsbescheide, Träume platzten reihenweise und er stand vor neuen Tatsachen. Für einen Verzweiflungsspezialisten wie Ron ging jedoch nach den ersten Absagen die Welt nicht gleich unter. Nur soviel war sicher: Eine Entscheidung musste her. Bald, denn langsam fielen ihm schon wieder die Haare aus.
Immer dann, wenn es am schönsten ist soll man die Party verlassen. Immer dann, wenn man beginnt sich irgendwo „heimelig“ zu fühlen (das Wort klingt so bekackt, aber es ist ein gutes Wort) und alles um einen herum langsam zur Gewohnheit wird, sollte man den Ort wechseln. Wenn der Alltag beginnt, sich wie ein großer vollgefressener rosa Wal einem auf die Füße zu legen, muss man abhauen. „Bleibe unverhaftet mit den Dingen dieser Welt“, riet ihm sein persönlicher Obi-Wan, sein Guru, der immer den richtigen Tip parat hatte, wenn es brenzlig wurde. „Es wird mal wieder Zeit, mir selbst den Arsch zu retten“, dachte Ron. Berlin ist nicht gleich Kamchatka, es ist nicht Wellington und es ist nicht Aix-en-Provence; aber es ist auch keine bequemlichkeitsgetriebene Alternative. Denn die wäre, einfach hier zu bleiben und auszuharren und in ausgeloteten Gewässern zu fischen. Bis man eines Tages an der Kasse von Aldi-Süd austickt und mit Rinderhack um sich wirft, wenn alles glatt läuft. Und eines Tages entdeckst du, dass all deine Schreie und all dein Schweigen bloß hohle Posen waren.
Ungeachtet der morgentlichen Nasenhaarproblematik konstatierte Ron an diesem Tag, dass mehr als Befindlichkeitsmonologe momentan einfach nicht drin seien. Dann zog er sich an, um auszuziehen.