Er [der Professor] war ein alter Mann, der mit Studentinnen in eine Ausstellung vertrottelt-obszöner Skulpturen ging. Seine Frau hatte Recht, er war tatsächlich kein Mann mehr, nur ein Wrack, das begehrliche Blicke auf dumme, junge Frauen warf.
Die Erkenntnis war so hell, dass sie ihn innerlich blendete. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Was blieb ihm noch übrig? Selbstmord. Dafür fehlte ihm die Kraft. Vielleicht Ehrlichkeit. Totale, kompromisslose Ehrlichkeit. Die Studentin mit den langen, schwarzen Haaren stand direkt vor ihm. Er räusperte sich. Als sie nicht reagierte, tippte er ihr mit dem Zeigefinger auf den Hinterkopf. Sie drehte sich zu ihm um.
Er begann leise zu sprechen. Die Studentin hörte ihm zuerst mit höflichem, dann mit zunehmend entsetztem Gesichtsausdruck zu. Nach und nach versammelten sich auch die anderen Studierenden um ihn.
– Schauen Sie nicht so blöd, zischte er sie an, im Grunde wissen Sie doch ganz genau, wozu ich Sie hierherbestellt habe. Ich will mit Ihnen ficken, das wollen alle Männer hier, vermutlich sogar einige der Frauen. Und das sage ich nicht, weil ich Sie beleidigen oder schockieren will, ich sage es, weil es die Wahrheit ist und wir von Zeit zu Zeit mit der Wahrheit konfrontiert werden müssen. Ohne Wahrheit werden die Menschen langsam zu Statuen oder Zombies oder zu Idioten, was weiß ich. Aber Sie, Sie schauen mich natürlich an, als hätte ich Ihnen gerade eine Ohrfeige gegeben. In Wirklichkeit geht es mir nur darum, einmal in vierhundert Jahren eine vollkommen sinnvolle Aussage zu machen. Allerdings … an ihrem Gesicht sieht man sofort, dass das unmöglich ist, dass die allersinnvollsten Äußerungen immer zugleich die allersinnlosesten sind. Anstatt sinnvoller Aussagen kann der Mensch nur sinnlosen Unsinn von sich geben, und je sinnloser die Aussage, desto größer die Begeisterung bei einen Mitmenschen. Das ist ein unerträglicher Zustand, ein zutiefst entwürdigender, wahnsinniger, widernatürlicher Zustand. Im Grunde wäre es besser, wir würden überhaupt nichts mehr sagen und einfach übereinander herfallen wie die Tiere, denn das ist es, was ich ehrlich gesagt am liebsten mit Ihnen machen würde, Sie dumme kleine Studentenpuppe mit Ihren engen Kleidern und Ihrem offenen Knopf an der Bluse und Ihren angemalten Lippen und dem Scheitel und den langen, ungewaschenen Haaren. Sie wissen das ganz genau, und ich weiß das auch, und alle hier wissen das, und trotzdem schauen alle so drein, als würde ich Sie verprügeln. Das ist es, was mit der Welt nicht stimmt. Niemand darf die Wahrheit sagen, jeder muss sich immer nur beherrschen und immer weiter den Schlafwandler spielen. Er darf immer nur wie unter Wasser herumgehen, blind und taub und vollkommen unmündig, und er darf langsam verblöden, und er darf seiner Frau bis zum letzten Blutstropfen treu bleiben, und er darf seine Mitmenschen respektieren, und irgendwann darf er dann sterben, und dann sagen alle: So ein tolles Leben. Wo es doch in Wirklichkeit ein sinnloses, sinnentleertes, dummes, unmündiges, widerliches, unnatürliches, verbrecherisches Leben gewesen ist, ein Leben, von dem niemand etwas hat, nicht einmal Sie, denn Sie werden auch irgendwann so sein, dumm und unmündig und widernatürlich verzerrt und so alt, dass Sie am liebsten alle ihre Mitmenschen mit sich reißen möchten. Schauen Sie mich nicht so an, sondern merken Sie sich lieber meine Worte, vielleicht werden Sie sie irgendwann sogar begreifen. (…) Und jetzt entschuldigen Sie mich, sagte er zu all den entrüsteten und fassungslosen Studentengesichtern. Entschuldigen Sie mich. Ich gehe nach Hause. Verklagen Sie mich. Bringen Sie mich hinter Gitter. Lauern Sie mir auf, verprügeln Sie mich, bringen Sie mich um. Nehmen Sie den Mord auf Video auf, und stellen Sie ihn ins Internet. Schreiben Sie Bücher über mich. Tun Sie, was Sie wollen. Sagen Sie die Wahrheit. Auf Wiedersehen.
(aus „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes„, von Clemens J. Setz)
Super Text. Genau das was wir schon immer in Stammtischmanier herumposaunen ;-).
Schön, dass der Blog von dir aufrechterhalten wird.
Grüße aus Passau,
Harald