Allein unter vielen

(Alone in a crowded room)

München, 28.03.2010 – Rettungsleute finden mumifizierte Leiche
Eine 90-Jährige hat länger als zwei Jahre tot in ihrer Wohnung in Neuhausen gelegen – und niemand hat es bemerkt. Erst als der Briefkasten übergequollen sei, habe der Hausmeister die Feuerwehr alarmiert, sagte ein Polizeisprecher am Dienstag. Rettungsleute hätten die mumifizierte Leiche am Freitag im Flur der Wohnung gefunden.
(Quelle: Welt.de)

Stadtleben offenbart ein an sich bizarres Beziehungsmuster. Wir leben dichtgedrängt Tür an Tür, rotten uns in urbanen Verflechtungen aus Beton, Stahl und Glas zusammen; wir suchen unseresgleichen und dennoch gibt es eine wesentliche Grundvoraussetzung, die dieses Zusammenleben erst möglich macht: Anonymität.

Ohne einen gewissen Grad an Anonymität wäre diese Art von Zusammenleben auf engstem Raum nicht realisierbar. In ländlicher Gegend sucht man Abgeschiedenheit und grüßt dennoch jeden Spaziergeher. In der Stadt ist es genau andersrum: Dort, wo man sich bewusst für das Leben unter vielen, bewusst für die Masse entschieden hat, sucht man vor allem eines: Abgrenzung. Durch diese besondere Möglichkeit, sich also in der Menge fortzubewegen ohne jedem Rechenschaft schuldig zu sein, durch die Innenstadt zu gehen und unter vielen trotzdem anonym zu bleiben – durch diese Gegensätzlichkeit wird urbanes Nebeneinander erst möglich. Eine Privatsphäre in einem öffentlichen Raum zu haben, oder anders:
Allein unter vielen zu sein.

Situation: Wenn 83 Menschen um einen herum in der U-Bahn stehen und sich kaum jemand rührt oder etwas sagt, verwandelt sich diese Situation für sie nicht auch manchmal in einen irgendwie skurrilen Augenblick? Ich sehe mir dann jeden Menschen einzeln an und spätestens dann, wenn ich jeden als Individuum begreife und wieder zurück zoome auf diese stupende Gruppe Mensch, fühle ich mich wie in einem Theaterstück, wie in einer Art lächerlicher Isolationshaft unter Meinesgleichen.

Zurück zu der Zeitungsmeldung vom letzten Mittwoch.
Nach so einer Nachricht gibt es natürlich sofort diese Stimmen: „Wahnsinn, wie kann das sein, dass die Frau da so lange liegt und niemand sieht nach? Hat sich da keiner gefragt, was los ist? Krass, in was für einer Gesellschaft…“ und so weiter, und so fort.

Sollte es nahestehende Angehörige geben, berechtigte Fragen. Einen zuständigen Pflegedienst, berechtigte Fragen. Aber wenn es sich um eine alleinstehende Frau handelte, keine Angehörigen und keine Familie; eine Frau, die in dem Wohnhaus auch sonst keine weiteren Kontakte pflegte, bewegen sich dann alle Parameter unseres großstädtischen Beziehungssystems nicht im normalgrünen Bereich, wenn niemand kommt und nach dem Rechten sieht? Oder ist das ihnen schon mal passiert, dass der Nachbar klingelt und fragt, ob alles in Ordnung sei, er habe schon seit drei Wochen nichts mehr von ihnen gehört? Gehen sie Abends nach Hause und fragen sich, ob der ältere Herr im Stockwerk unter ihnen noch lebt? Ob es ihm gut geht, er mit seinem Pils vor den Tagesthemen hockt oder ob er mit dem Gesicht nach unten auf dem Parkettboden liegt und verwest? Nein, wir stellen uns diese Fragen nicht. Und wir erwarten nicht, dass sie sich über uns jemand stellt. Wir rechnen vor allem mit einem: Anonymität. Und das ist in unserem städtischen Lebensmiteinander – oder „Lebensaneinandervorbei“ – völlig wertfrei; sie ist weder gut, noch schlecht, sondern einfach Bestandteil der Sache.

Randbemerkung: Solche „Menschen-verwesen-unentdeckt-in-ihrer-Wohnung“-Fälle werden nicht immer, wie eigentlich zu erwarten wäre, durch die Geruchsentwicklung, also durch das Zerfallsprodukt des Menschen selbst entdeckt, sondern durch die stockenden, aus dem Ruder laufenden Prozesse um sie herum: der volle Briefkasten, der zu laute Fernseher, die nicht bezahlten Strom- und Abwassergebühren, etc.

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