oder, da als Film- und Buchtitel bereits vergeben
»Die zwangsläufig unvermeidlich beobachtbare Gestaltung menschlicher Lebensgewohnheiten in einem Wohnhaus mit unerklärlich akkurater Fassadenfreundlichkeit«
Die Leute sind schäbig, weil das Haus schäbig ist. Der Putz, die Fassade, die Balkongeländer, die Jalousien – sobald ein Haus schäbig aussieht sehen die Leute, die es morgens verlassen auch automatisch schäbig aus.
Aber das trifft auf unser Haus und das dem unsrigen gegenüberliegende nicht zu, wobei die Fassade unseres Wohnhauses schon ein wenig schäbiger wirkt, als die des gegenüberliegenden Hauses, das mit dieser schon weithin sichtbaren Tatsache ein ganzkleinwenig protzen will, so scheint es. Doch das wird sich diesen Sommer ändern und wir, das heißt unser Haus und die darin lebenden Parteien werden sich rächen, da wird also unsererseits zurückgeschossen, nachgerüstet und Make-up und neue Farbe aufgetragen, etc.
Wenn ich so am Frühstückstisch sitze, bei Kerzenlicht und zittrigem Morgengrau, das quallenartig heraufgewabert kommt hinter einem Horizont, den man sich den Verhältnissen des Stadtmenschen entsprechend als eine wahnsinnig weit entfernt gelegene Linie vorstellen muss und nach draussen, das heißt hinüber zum anderen Wohnhaus blicke, stelle ich mit einiger Erschütterung fest, dass dies das erste mal in meinem Leben ist, dass ich am Frühstückstisch meiner Wohnung sitze, bei Kerzenlicht und zittrigem Morgengrau und wahnsinnig weit entfernt gelegener hypothetischer Horizontlinie und so und in ein anderes Wohnhaus sehe. Ich kann beobachten, wie die Menschen in ihren jeweiligen Wohnungen nach und nach aufstehen und all die entsprechenden Dinge tun, die Menschen so tun wenn sie aufstehen.
Da werden Hemden nach draussen gehangen und Fenster zum Lüften geöffnet. Das Licht bleibt interessanterweise überall zunächst mal aus, sonst würde man einen Blick in die der nachtschläfrigen Dämmrigkeit noch nicht ganz entrissenen Wohnungen gewinnen und das würde sich verständlicherweise nicht ganz mit der jeweils höchst individuellen Vorstellung der eigenen Privatsphäre decken. Eine Frau läuft, soweit dies in der allgemeinen Nymphenburger Neun Uhr Zwanzig-Blässe dieses verregneten Januarmorgens überhaupt klar auszumachen ist mit türkisblauem Schal durch die Wohnung. (Trägt sie Kopfhörer oder sind das zu große, schwarze Ohren?) Eine andere steht stolz ihre ausgesprochen wohlgeformten Brüste zur Schau tragend nackt in ihrem Zimmer, weil sie entweder denkt, dass niemand sie sieht, was sich ganz offensichtlich als Irrtum herausstellt oder weil es ihr egal ist. Ein anderer, älterer Herr geht sogar nackt auf seinen kleinen Balkon, um das Schlafgewand aufzuhängen, von einem Zimmer zum nächsten also quasi linear progressiv ansteigende Nacktheitseskalationen, ohne dass die Leute eine Spur Schamgefühl zeigten. Die folgende Wohnung scheint leider verlassen.
Und die jeweiligen Menschen in ihren jeweiligen Wohnungen tun das, was man halt so tut als Wohnungsbesitzermensch: Man macht Haushaltsbewegungen. Und da ich diese aus der Entfernung nur erahnen kann und weil die Hälfte des Geschehens und ihre Körper von Fenstern abgeschnitten werden, sieht es wie urbanes Pantominenspiel aus und ich fühle mich wie in einer TV Quizshow und muss raten: abwaschen, staubsaugen, sich die Genitalien kratzen oder blumengießen.
Sie leben alle so vor sich hin in ihren Wohnungen, genau wie ich und die Fenster sehen aus wie Türchen eines Adventskalenders, was nahe liegt, denn Weihnachten ist noch nicht lange her.