Nicht deswegen

Wollte rausgehen, eine Runde durch die Stadt drehen und mir eine Zigarette schnorren. Ich rauche nicht, für gewöhnlich. Doch seit ein paar Wochen packt es mich regelmäßig, ich werde unruhig, bilde mir was ein und ziehe los und während ich unterwegs bin orten meine Laserpointeraugen Zielobjekte – Gesicht, Bewegung, Hand, Zigarette ja / nein? – hochanalytisch, das geht in Sekundenbruchteilen. Terminatorinterfaceblick. Und die ganze Zeit murmle ich einen Satz, „Entschuldigung, hast du vielleicht eine Zigarette für mich? Entschuldigung, hast du vielleicht…? Entschuldigung?…“; wie ein Mantra, wie die zwei Zeilen eines Gedichts, das man als Kind auswendig lernen musste. Die zwei Zeilen, die einen immer und immer wieder zum stolpern brachten, an denen man permanent scheiterte. Am Heiligabend oder an sonstirgendeiner Veranstaltung, bei der mehr als zwei Personen zugegen waren, auf einem Fest in der Grundschule, einem Theaterspiel oder bei Verwandtenbesuchen; wo es einem die Aufregungsröte ins Gesicht trieb, weil man all den Menschen zeigen wollte, das man es draufhat und jetzt bloß nichts vergeigen und dann doch bloß stammelte und das geräuschlose Warten der Erwachsenen einen die Brust zudrückte. Bei eben bei diesen zwei Zeilen.
Wollte also rausgehen, eine Runde durch die Stadt drehen und mir eine Zigarette schnorren. Ich rauche nicht, für gewöhnlich. Doch wenn, dann geht es schnell. Also die Frage nach einer Zigarette geht schnell und so einfach, wie die Frage nach der Uhrzeit. „Entschuldigung, wie viel Uhr haben wir? Entschuldigung, hast du vielleicht eine Zigarette?“
Wollte also rausgehen, eine Runde durch die Stadt drehen und mir eine Zigarette schnorren, blieb jedoch im Appartement, das in den frühen Stunden des Tages ganz sonnendurchflutet hin und her schaukelt, wie ein Korb an einem Heißluftballon, der ächzt und knarrt unter dem Gewicht der Passagiere und dem rauen Zerren des Windes, wenn man höher und höher steigt, so hoch schon dass man meint, bald mit den Fingern langsam über die Wolken streichen zu können.

Blieb also im Appartement und spülte Gläser und machte das Bett und freute mich über einen weichen Morgenschiss. Wie gewöhnlich alles. Aber dann, ach.
Dann fuhr ich doch in die Stadt (nicht der Zigaretten wegen, ich schwörs), ging nicht zu J.C. Pennys (den gibts bei uns nämlich gar nicht) oder Karstadt oder Woolworth oder Starbucks, weil da alles mit Geldausgeben verbunden ist und ich wollte kein Geld ausgeben. Ich ging nicht dorthin um Ruhe zu haben, weil Ruhe hat man in der Stadt nicht. Oder selten oder an Orten, die ich nicht kenne. Die Stadt gibt eigentlich keine Ruhe, sie will permanent etwas von dir, dass du mitschwimmst und konsumierst und das macht sie manchmal so aufdringlich, dass ich ganz nervös werde und am Ende doch bloß wieder nachgebe und irgendeinen Scheiss kaufe. Verchromte Handtuchhalter, die man in die Tür klemmt, Digitalkamerareisetaschen aus Neopren für Digitalkameras, die ich nicht besitze, chinesische Glückskatzen mit erhobener Pfote, die das Glück heranwinken, so haarscharf an meiner Schläfe vorbei (Glück, Katze, sonst hättest du mir damit ein Loch in den Schädel gebohrt), Nasenhaarrasierer mit Fuzzy-Logic und Lithium-Ionen-Akku und Staubsaugerbeutel im Fünferpack, weil günstig und somit the most bang for the buck. Dinge, die ich eigentlich nicht brauche und nicht will, die ich kaufe, nicht um glücklich zu sein sondern als eine Art Valium für zwanzig Minuten Frieden und Eintracht im Einkaufstempel.

Wollte rausgehen, eine Runde durch die Stadt drehen und mir eine Zigarette schnorren. Ich rauche nicht, für gewöhnlich. Und dann war ich plötzlich in der Stadt. Zur Hölle, ich kann nicht sagen wieso oder warum. Was machte ich hier überhaupt? Also doch bloß der Zigaretten wegen (hab vorhin gelogen), da fiel mir ein Zitat von Peter Glaser ein. Abgewandelt, ganz leicht, so hat er es nämlich nicht gesagt (ich wandle gerne mal ein Zitat um, sodass es seine Gültigkeit behält oder am besten eine neue Richtung bekommt. So bin ich halt). Sag ich so: Manchmal muss man rauchen, um das Nichtrauchen nicht überhand nehmen zu lassen. Kann man so sagen. Kann man auch so stehen lassen. Jetzt funktioniert das aber auch in die andere Richtung. Manchmal muss man nichtrauchen, um das Rauchen nicht überhand nehmen zu lassen. Trotzdem suchte ich nach einer Zigarette, scheiß doch auf die guten Vorsätze, die sind ja morgen auch noch gut. Werden ja nicht schlecht. Und mit dem Gedanken an schlecht kam der Hunger. Bin dann doch zu Subways gegangen und schon schlechtes Gewissen bekommen, daheim nichts ordentliches gekocht zu haben und jetzt für meine Ernährungsfaulheit Geld für belegte Weißbrotscheiben auszugeben, das ich eigentlich nicht ausgeben wollte. Gab dann aber letzten Endes doch kein Geld aus und keine belegten Weißbrotscheiben und nach wie vor hungrig wie ein streunender Wolf in der Tundra, denn es war Dienstag und „Sub des Tages“ war das Meatball Marinada und das sah so fleischklopsig widerlich aus, dass mir der Appetit ganz ordentlich verging. Dann war ich wieder mit den Gedanken beim Hunger und bei schlecht.

Wollte rausgehen, eine Runde durch die Stadt drehen und mir eine Zigarette schnorren. Ich rauche nicht, für gewöhnlich. Und dann saß dort auf einer Bank meine Zigarette (die Isabella hieß, wie sich später rausstellte) und ich war keck und trug ihr meinen kleinen beschissenen sozialschmarotzenden Weihnachtsvers vor. Entschuldigung, hast du vielleicht eine…? Ja klar. Und sie musterte mich skeptisch, als ich mich für einen Moment neben ihr auf die Bank setzte und so tat, als wäre meine Frage nach einer Zigarette die gewöhnlichste Frage der Welt für mich. Vielleicht zögerte ich auch zu lange, vielleicht tat ich auch so, als würde ich auf eine Unterhaltung warten (wenn ja, so fiel mir das nicht auf) und sie so: „Kennen wir uns!“ Nein… also… nun, ich denke nicht und log, denn ich hätte ein ganzes fleischklopsiges Meatball Marinada drauf verwetten können, sie irgendwo schon mal gesehen zu haben. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen und wippte mit dem braunzerlatschten Hauspantoffel an ihrem Fuß. „Sag mir bitte einen Grund, warum ich nicht die Stadt verlassen soll.“ Dieser Satz kam so direkt und selbstverständlich über ihre Lippen, dass ich mich fühlte, als seien wir bereits 30 Jahre verheiratet und alles mal wieder so gewöhnlich, ach, und befürchtete, diese Unterhaltung ist schon nach dem zweiten Satz im Arsch, so richtig tief drin. Sag mir du bitte einen Grund, warum du die Stadt verlassen willst. Der Job? Nein. Die Wohnung? Nein. Die Familie? Nein, nicht deswegen. „Der Freund, der Pisser.“ Sein Wasserglas stand noch immer an der selben Stelle. Er hatte noch nicht mal Zeit gehabt, richtig zu lügen. Er hatte noch nicht mal Zeit gehabt, richtig auf Wiedersehen zu sagen. Der Pisser! Pisser!, Pisser!, Pisser! und aus ihren Augen sprühen Fünfmilliarden Hassfunken und ich halte meine geschnorrte Zigarette zur Sicherheit mal ganz weit weg, nicht dass sie angeht, wollt ich mir ja noch für später aufheben. Und ich dann so: Mhm, was für ein Pisser und ich weiß, dass ihr das überhaupt nichts bringt. Geheuchelte Anteilnahme ist manchmal noch unpassender, als gar keine Anteilnahme, also sag ichs ganz leise, damits vom Straßenlärm verschluckt wird und das klappt ganz gut.

Und du? Warum bist du hier? Einkaufen? Nein. Essen? Nein. Naja… (und der Tundrawolf in meinem Magen fletscht die Zähne). Zigarette schnorren? Ich schau auf die Zigarette zwischen meinen Fingern und für den nächsten Satz denke ich auffällig lange nach. Nein, nicht deswegen und buddle mich solange durch die Staubschicht auf meinem Hirn – hundert Lagen von Meatballs und Nasenhaarrasiererangebote und Shoppingglanz und Motorengebrumme, bis ich einen blanken Kern finde, der mich überrascht, weil er so unerhört weiß schimmert wie der Knochen, der durch eine Fleischwunde blitzt. Menschen, sag ich dann trocken und drehe mich um und zu ihr und sie blickt mich an, als wäre das die gewöhnlichste Antwort der Welt. Menschen, sag ich noch einmal, als hätte ich selbst nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe und meine damit ihre Geschichten, deine Geschichte zum Beispiel, Zigaretten-Isabella, mit deinem Pisser, der sich verpisst hat und sein Wasserglas, dass immer noch dort steht, wo er es hingestellt hat und das dich auch noch in ein paar Tagen an eure Unterhaltung erinnern wird, an den Streit und deine Vorwürfe und seine wortlose Eile, vielleicht hin zu einer anderen, du hast es ja schon immer vermutet.

All diese kleinen Geschichten der Menschen aus der Welt dazwischen, der Füllstoff in unserem Dasein; der Kitt, der die Fugen zwischen den Episoden des Lebens zusammenklebt oder sprengt, je nachdem, wie mans halt erwischt. Geschichten, die einem doch immer wieder zeigen, dass es anderen auch so geht. Und die sind dann vielleicht besser oder schlechter dran als man selbst und das tut gut, weil man sich dann am Leben fühlt und für einen Moment den Pappmachéfassadengeschmack im Mund vergisst, den diese eskapistische Quatschwelt oft hinterlässt. Ja, das ist mein Grund, warum ich die Stadt noch nicht verlassen habe. Sie nickt und lächelt und sagt etwas, das vom Straßenlärm verschluckt wird. Dann erzähle ich ihr noch davon, dass ich in die Geschichte eingehen werde als größter evil idiot fuck, der auf seinem Kahn absäuft, blubb blubb von der Bildfläche verschwindet und mit ihm all seine tausend kleinen evil idiot fuckideen. Da werd ich mal ein Buch draus machen, sag ich und steh auf und bin ganz plötzlich sachlich und per Sie: „So ist es, wenn sie so wollen“. Und auf dem Weg nach Hause kaufe ich mir einen Notizblock in DINA5, für all die Geschichten, die ich niemals schreiben werde und werfe die Zigarette weg. Temporäres Raucherwochenende beendet.

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