Was sich nicht organisch fügen will, soll wenigstens anschaulich klaffen.
—Peter Rühmkorf
Es gibt in München eine Dauerbaustelle, die entgegen der sonst natürlichen Art der kleineneren Schwester, der Wanderbaustelle sachgemäß schon sehr lange an einem Platz verweilt: am Luise-Kiesselbach-Platz.
Seit 2009 wird hier versucht, den Mittleren Ring, eine der Hauptverkehrsadern Münchens unter die Erde zu bringen. Das dient der allgemeinen Beruhigung der Verkehrswahrnehmung, zumindest die der Anwohner und Gewinnung von Baugrund. Doch die Dauerbaustelle ist seit vielen Jahren vor allem eins: eine Metapher auf das Leben.
Das Wort Dauer an sich ist schon irreführend; wie lange ist etwas von Dauer, wenn etwas von Dauer ist? Zwei Monate, vier Jahre, vier Jahrzehnte? Etwas ist von Dauer beschreibt einen imaginierten Punkt in der Zukunft, der auch mal knapp unter Ewigkeit liegen kann (siehe Wartezeiten am Schalter der Deutschen Bahn oder Arztbesuche).
Die Annahme vom drohenden Untergang
In der Dauer schwingt auch die Vermutung mit, dass dieser Zustand nicht final ist. Am Luise-Kiesselbach-Platz ist dieser Eindruck schwer nachzufühlen, obwohl geschürft und geflucht, gegraben und straßenverlegt wird, was der moderne Tiefbau zu bieten hat. Schweres Gerät, auftürmende Schuttberge und dutzende Ersatzbushaltestellen sind ein Verweis darauf, dass die arme Seele, die es irgendwie über diesen Platz schaffen will, egal ob Fußgänger oder Motorisierter, es mit einer Bricolage besonderen Umfangs zu tun bekommt: der immerwährenden Beta (the perpetual beta) eines Bauareals.
Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Rilke
Eine Sache, die sich nur selbsterfahrend mit dem Auto entdecken lässt, ist die kafkaeske Eigenschaft der dortigen Behelfsstraßenführung. Das war zumindest in der Anfangszeit der Dauerbaustelle der Fall. Als ich das erste mal mit dem Auto den Platz überqueren musste, verpasste ich die richtige Abbiegespur, so zerknäult waren die weißen und gelben Ersatzspurlinien. Das nächste mal, die gleiche Route, fuhr ich zuversichtlich der neugelernten Ausnahmesituation entgegen, nur um festzustellen, dass die Fahrbahnführung erneut verlegt wurde. Und ich erneut die Ausfahrt verpasste.
Ich bin kein Freund von Simplifizierung durch -esken, doch kafkaesk trifft es auf den Kopf, denn Franz Kafka hat genau so geschrieben:
Die Absichten einer dahinterstehenden Ordnungsmacht sind absolut nicht nachvollziehbar und wirken, durch das ständige Verändern gewohnter Regeln willkürlich und drangsalierend. Aber das ist nur meine neurotische Sicht auf die Dinge.
Sei’s drum, ich feiere den Luise-Kiesselbach-Platz als eine Metapher auf das Leben, das ewig Unabgeschlossene, sich dauernd Verändernde. Perfektion heißt stillstand, die einzige Konstante in diesem Universum ist Veränderung.
Das kann man nun mit Rainer Maria Rilke kommentieren oder Peter Rühmkorf, siehe oben.
Oder es eben bleiben lassen.