»Hier arbeiten Frauen.
Anzügliche Bemerkungen, Annäherungsversuche und Herumlungern verboten.«
Das Schild ist so groß wie eine Postkarte, weiß und mit schwarzer Schrift und hängt hinter der Theke des Cafés. Eine Maschine presst fauchend eine Flüssigkeit, die entfernt an Milchkaffee erinnert aus ihren mechanischen Eingeweiden, was sich insgesamt nach einem ziemlich schmerzhaften Prozess anhört, während ich über das Schild nachdenke und auf meine Bestellung warte. Dann reicht mir die Frau hinter der Theke den Becher.
»Was haben denn die Frauen, die hier arbeiten gegen Menschen, die hier rumlungern?«, frage ich sie. Und ab wann beginnt überhaupt herumlungern? Muss ein Herumlungerer gleichzeitig ein Störenfried sein? Muss man dafür etwas tun, indem man etwas nicht tut, also nichts bestellt, nicht anständig schaut und mit seinen blähenden Gedanken einfach nur so in der Gegend herumsteht, doch das frage ich nicht, ich habe soeben bezahlt, bin also folgerichtig total abgefertigt und ohne weitere Funktion und wir sprechen von Angst in ihrem weitesten Sinn, wenn ich nun das Gefühl beschreiben müsste das hochgekrochen kommt, ich könnte als potentieller Herumlungerer des Ladens verwiesen werden, noch bevor ich mich entscheide, proaktiv und Kraft meines eigenen Willens die Tür zu suchen, um meinen Körper nach draussen zu bringen.
Bevor das passiert, tauschen wir Blicke. Meiner ist eher von der fragend, neugierigen Sorte, Marke Labrador-Hundeblick; ihrer verrät nur, dass sie mir am liebsten die Haut vom Fleisch pellen würde, ausserhalb des kleinen Kaffeehauskontexts, versteht sich; eine Mischung aus Enttäuschung und Tötungsabsichten, so gelangweilt blickt sie mich an, dass ich kurz darüber nachdenke, ob mit meiner Frage die zweite Bedingung auf dem Schild einwandfrei erfüllt wurde und ich mir in einer Art Fettnäpfchenepisode nun einen weiteren Grund eingebrockt habe, entgegen der Schwerkraft und entgegen meinem Willen aus dem Laden befördert zu werden, aber vielleicht ist die Frau auch einfach nur müde.
Dann passiert exakt: nichts. Sie zuckt so intensiv mit den Achseln, dass sich ihr Pullover an den Handgelenken um circa fünf Zentimeter verkürzt. »Naja,« sagt sie, »die Nerven halt.«
Der Kaffee ist gut und ich empfinde so etwas wie Freude, wegen der Sonne und der Tatsache, ohne motorische Fremdeinflüsse heil aus der Sache rausgekommen zu sein. Ausserdem mache ich heute meinen ersten Schritt hinaus in das Freiwildgehege der Selbständigkeit, das ich Mitte diesen Jahres in einem Anflug scheinbar totaler geistiger Umnachtung verlassen hatte.
Ich schlendere zum Backsteingebäude des Arbeitsamtes in der Kapuzinerstraße und benutze den Behinderteneingang, der sich rechts neben dem Eingang für die Nichtbehinderten befindet und sich via Knopfdruck automatisch öffnet und ich benutze genau diesen Eingang, einfach so, weil wir ja alle irgendwie Behinderte und Verblockte sind und ich mich auf gar keinen Fall von so einem behinderten Eingang diskriminieren lassen werde, so viel steht fest.
»Getränke sind hier drinnen verboten. Steht doch auf den Schildern am Eingang.« Ich schaue fragend zuerst meinen Kaffeebecher, dann den Sicherheitsbeamten, dann wieder meinen Kaffeebecher an.
»Aha, soso. Aber ich bin durch den Behinderteneingang gekommen. Da waren keine Schilder.«
»Egal. Getränke sind hier jedenfalls verboten.«
Und ich sage okay zu meinem Kaffeebecher, schließlich macht der Mann auch nur seinen Job, auch wenn dieser in seinem Fall nur darin besteht, Nichtbehinderte mit Getränk, die durch den Behinderteneingang kommen darauf hinzuweisen, dass das verboten ist, also weniger das Nichtbehindertsein, als die Sache mit dem Getränk und so trinke ich den letzten Schluck Kaffee und nicht ganz vollkommen frei von opportunistischen Gefühlen werfe ich den Becher in den nächsten Abfalleimer.
Dabei kneife ich aus Gründen des ordentlichen Anvisierens ein Auge zusammen, ich bin der Abfalleimer, der Abfalleimer bin ich, ich warte ein paar Sekunden, bis meine Hand ruhig geworden ist, wie die Biathleten, die sich in den Schnee werfen und schnaufen und, weil die Umgebungsluft zu kalt ist, um das gasförmige Wasser aus ihren Lungen vollständig aufzunehmen, sich sehr darauf konzentrieren müssen, durch den Nebelhauch hindurch ihr Ziel nicht zu verfehlen.
Der leere Kaffeebecher landet im Abfalleimer.
Ich wende mich noch einmal zu dem Sicherheitsbeamten.
»Aber heißt das, dass Behinderte mit einem Getränk hier reindürfen?« und der Mann versteht die Konsequenz meines deduktiven Verfahrens nicht, zumindest verzieht er nicht die Miene sondern zuckt mit den Achseln, was durch seine ärmellose Daunenweste ein raschelndes Geräusch produziert und sich die Weste dabei ein Stück über seinen Bauch schiebt, während sich draußen auf dem Platz eine Amsel vollkommen unbeeindruckt von der Argumentstruktur hier drinnen in einer Pfütze aufplusert.
Es gibt fünf Schalter, alle sind besetzt, die Warteschlange ist lang, der Raum ist zu zweidrittel gefüllt; die Sachbearbeiter warten, die Leuten warten und insgesamt herrscht eine Stimmung, die an das elektrische Warten kurz vor der Bescherung erinnert. Alles könnte schon vor 15 Minuten losgegangen sein, sagt mein Menschenverstand, der jedoch die Tatsache ignoriert, das etwas entwickelt wurde, um Verunsicherungsvertreter und Freigeister wie mich in die Schranken zu weisen, was man Öffnungszeit nennt und die beginnt im Fall der Arbeitsagentur und an diesem speziellen Tag erst ab 14 Uhr, was so ziemlich genau fünf Minuten entfernt ist und gemäß diesen Bedingungen, wo kämen wir da hin, auf gar keinen Fall früher angefangen werden kann.
14:00:03. Eine Sachbearbeiterin stösst den Abfertigungsprozess mit dem Aufruf »Der Nächste bitte« an und etwas in mir sackt zusammen, wahrscheinlich die insgeheime Hoffnung, dass sie mit »Der Erste bitte« beginnen würde. Ich habe schon jetzt das Gefühl, irgendein Formular vergessen zu haben, obwohl ich erst am Anfang stehe und noch gar keine Formulare habe.
Ich verkürze die Wartezeit, indem ich dem Baby, das mit seinem Vater vorne an einem der Schalter wartet so lange Grimassen schneide, bis sein Quengeln für die Allgemeinheit unzumutbar wird und sie das Gebäude verlassen. Ein Platz wird frei, bitte aufrücken.
Ob die hier was dagegen hätten, wenn ich als Ich-AG verkleidet mit meinem Bauchladen hier durchmarschiere und Kugelschreiber, Kaffee und Konfettikanonen verkaufe? Noch vier Wartende vor mir. Mit Gewerbeschein müsste das klappen. Gibt bestimmt eine gesetzliche Regelung dafür. Aber die Konfettikanonen, das dürfte ein Problem werden, können bestimmt nur außerhalb des Gebäudes in speziell gekennzeichneten Bereichen benutzt werden.
Ich könnte auch rufen: Eine Bombe! Oder macht man damit keine Scherze? Noch drei Wartende vor mir, nein, damit macht man keine Scherze, noch zwei Wartende, noch einer und ich nehme meine Gedanken wieder an die Leine, für das anstehende Gespräch muss ich das Rudel zusammenhalten. Denn wenn man, während man etwas tut, außerdem denkt, dass man etwas tut, ist man weniger gut in dem, was man tut, weil man ja einen Teil von dem, was man braucht, um zu tun oder zu denken, dafür verwendet zu denken, was tu ich hier eigentlich, also denke ich jetzt lieber nicht mehr daran, dass ich denke, was tu ich hier eigentlich, sondern konzentriere mich auf die Frau hinter dem Schalter.
Nach einem höflichen tête-à-tête halte ich einen pinken Laufzettel in der Hand, der mir den Weg zum pinken Wartebereich C weist, wobei die Sachbearbeiterin, die mir den Zettel gab etwas undeutlich von »pinkeln im Wartebereich C« spricht und ich zuerst an Urinprobe denke und ich mich, nachdem ich den Wartebereich C gefunden habe, jedoch keine Pissoirs, entsprechend dieser Observation dazu entschließe, nicht zu pinkeln sondern einfach nur zu warten. Es gibt hier auch keine Handtücher und erst recht keinen getrennten Männer / Frauenbereich. Fünf Minuten später werde ich von einer weiteren Sachbearbeiterin abgeholt, die mich an ihren Arbeitsplatz führt.
An einem gewissen Punkt der folgenden Unterhaltung sehe ich mich Sachen sagen wie: »Wissen sie, ich arbeitete bereits als Selbständiger, das war vor einem Jahr, ich bin Werbetexter, freier Autor, aber dafür kann ich nichts.« und versuche das Gefühl zu vermitteln, niemandem auf der Tasche liegen zu wollen aber der Rest der Unterhaltung folgt einem ganz bestimmten Ja / Nein-Schema, und auf diesen Teil der Unterhaltung kann man aus dramaturgischen sowie müdigkeitsverursachenden Gründen an dieser Stelle ohne weiteres verzichten.
Ein paar Tage später erhalte ich den Ablehnungsbescheid für meinen Antrag per Post, alles reine Formsache, erläutert mir der Mensch an der Hotline und ich möchte ihm sagen, natürlich, alles auf dieser Welt und in diesem Leben ist reine Formsache, solange man als einigermaßen strukturierter Vielzeller über ein Bewusstsein und ein paar Augen verfügt, mit denen man in diese Welt hinausblicken kann, aber ich sage nur »Hm, verstehe« und lege auf.
Warum einfach, wenn es auch umständlich geht.
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Iris Müller
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Yvonne Lewanscheck
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