Entschlossen unentschlossen

Das Bett absichtlich nicht gemacht, damit es so aussieht als ob es auf mich wartet.

Zu viele Straßen mit zu vielen Namen. Und dann kam 2013 und wollte, dass ich mich endlich entscheiden sollte. Wachstumsschübe, den Schmerzen in der Kindheit nicht unähnlich, wenn Zähne wachsen, Beine wachsen, sich generell das ganze Gestell dehnt und der Körper sich im Raum ausbreitet. Zerrüttung und Neuanfang, so die Schiene. Kann gut laufen, kann aber auch schlecht laufen. Die Unabwägbarkeiten des Lebens kommen in Wellen, das kann man nicht aufhalten. Man kann sich nur ein Surfbrett schnappen und auf den Wellen reiten.

Persönliche Themen: Verortung, Überlagerung, Räume definieren und so etwas wie althergebrachte Eitelkeiten abschütteln.

Dann kam dieses 2013, irgendwie bin ich ihm ja dankbar für seine Lektionen, mit all seinem Trennungsgedöns von einem Menschen und dem dazugehörigen alten Leben, Job und Wohnung, krasse Zäsur und nichts mehr war auf Normalnull. Ich würde ja schreiben, kein Stein sei auf dem anderen geblieben aber selbst die Steine bestehen heute aus einer anderen Substanz als damals. Der Winter war da, der Frühling war da, der Sommer war da, der Herbst war da, der Winter war da, der Frühling war da, der Sommer war da, der Herbst verdrückt sich gerade durch die Hintertür und heute könnte ich uneingeschränkt glücklich und froh darüber sein, was seitdem alles geschehen ist. Und tatsächlich bin ich das auch. Also, zumindest zu zweidrittel. Aber irgendwie scheint die Welt seitdem mit jedem Tag ein kleinwenig verrückter zu werden. Und unter allem wuchert ein ausgesprochen starker Zorn.

Ich bin viel zu oft zornig. Zornig darüber, dass ich Verantwortung übernehme und nicht glücklich damit bin, jetzt verschiedene Wege gehen zu können. Zornig über das Wort „Verantwortung“, in dem ja „Antwort“ steckt und mir die Fragen immer noch so weit bis zum Hals stehen, dass sie oben reinlaufen. Zornig über die Gesellschaft, die Menschen, die Zukunft und das Leben allgemein. Und schon wieder: zornig über Pauschalisierungen.

Ich schreibe zornige Texte und rauche meine Zigaretten zornig; ich trinke zornig den Wein, esse zornig mein Essen, alles mit einer überbordenden Hast, als sei es mein größter Wunsch, dass all das hier endlich vorbei sei. Weggewischt mit einer zornigen beiläufigen Geste, als ob alles nichts bedeute. Diese geduldete Beiläufigkeit macht mich zornig. Ich bin sogar zornig über das zornig sein.

Natürlich gibt es auch schöne Momente, kurze Zeitfenster der Seeligkeit, in denen ich das Gefühl habe an Luft zu kommen, atmen zu können; kurze Auszeiten in denen kein Zorn existiert, noch nicht mal die Erinnerung daran. Obwohl mich das Wort „Auszeit“ schon wieder ein klein wenig zornig macht. Als ob es ein ‚Aus‘ von der ‚Zeit‘ geben könnte, was an sich schon totaler Blödsinn ist und mehr noch, heuchlerisch, weil wir in Wirklichkeit meinen, von dem Bullshit und der Hektik des Alltags Abstand bekommen zu wollen. Also sollte es ‚kontemplative Momente vollumfänglicher Bullshitfreiheit‘ oder ‚generelle Vermeidung von Hamsterradgeficke’ ((In China sterben mittlerweile 600.000 Menschen pro Jahr an Überarbeitung, und zwar ganz direkt, wie im bekannten Fall des PR-Mitarbeiters Gabriel Li, der nach einem Arbeits-Marathon einfach tot vom Stuhl fiel. Oder die indonesische Werbetexterin, deren letzter Tweet „30 Stunden Arbeit und noch immer Top-Fit“ noch immer auf Twitter zu lesen ist. Wenige Stunden nach diesem Tweet starb auch sie – an einer Kombination aus Erschöpfung und zu vielen Energy-Drinks.)) oder so ähnlich heißen.

Gestern, als ich auf der Couch am Fenster saß und ein Buch von Dirk Bernemann fertiggelesen beiseite legte und meine Gedanken einer nach dem anderen aus dessen Texten herausgestolpert kamen, das war so ein Luftholmoment.

Es war still und ich betrachtete die Lichterkette an unserem Baum im Garten. Lichterketten draußen an Bäumen verursachen in der kalten Jahrezszeit zwischen Menschen regen sich über Laubbläser auf und Menschen regen sich über Schokoosterhasen in den Warenauslagen auf per se ja ein heimeliges Gefühl.

Ich beobachtete, wie sich das sirupartige Grau eines unentschlossenen Oktoberabends über die Dinge legte. Da saß ich, irgendwie milde und dankbar gestimmt, wegen der Ruhe und der allgemeinen Zornlosigkeit mit meinem ausgelesenen Buch, das immer noch Buchstaben enthielt am Fenster; faltete meine Hände, was man locker als Beten hätte interpretieren können, ansonsten aber einfach nur Ausdruck meines genüsslichen Insichruhens war, und meditierte über die Eindrücke, den Moment, das Luftholen, die Liebe und die Frau, die neben mir auf der Couch saß und las. Ich. War. Einfach. Nur. Da.

15 Minuten maximallockermachendes Dasein, bis der Zorn wieder auf die Bühne trat und um Aufmerksamkeit buhlte, mein Hirn wieder zum blubbern brachte. Zorn ist doch das Allerletzte! Zorn ist immer zuletzt da. Vielleicht weil er mit ‚Z‘ beginnt. Mit ‚Z‘ wie in „Zyklus“, wenn die Natur mit lohfarbener Grammatik über die Zeit schreibt: Herbst.

Und jetzt, da das raus ist fühle ich mich etwas weniger zornig.

Wobei.

“Es war wie nach der Rückkehr von einer Reise in ein fremdes Land, wenn alle fragten, wie es gewesen war: Meine Schilderungen wurden sich dann immer ähnlicher, stellten diesen tollen Eindruck, jenen coolen Ort oder eine bestimmte lustige Begebenheit in den Vordergrund – bis es nur noch eine einzige Version gab, die dann an die Stelle meiner Erinnerung trat. Als mir diese Neigung wieder einfiel, packte mich die schiere Angst. Es war diese altbekannte und durch ihre plötzliche Intensität so durchdringende Angst, dass, wenn sich eines Tages alle Empfindungen in Luft aufgelöst hätten, von meinem Leben nichts übrig bleiben würde als ein Klischee. Dass mich Petrus nach meinem Tod fragen würde: Und, wie war’s?, und ich dann sagen würde: Ein herrliches Fleckchen. Gutes Essen. Manches habe ich nicht vertragen. Aber die Leute waren echt nett. Und das wäre dann alles.“
– „Unentschlossen“, Benjamin Kunkel, 2005


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