Fredda, mit den natürlich gelockten Haaren (und andere Situationen)

“Hier haben Sie Destillate, etwas Verdichtetes: Alltagsfetzen, Szenen, Dinge halt, die einem nach und nach langsam ins Bewusstsein träufeln. Passiert Ihnen das nicht auch ständig?”
– Lovable Doc Stanley

Das dicke Mädchen rechts neben mir auf der Bank wartet auf die Studienberatung der Germanistik. Sie wartet, wie ich, seit eineinhalb Stunden, während der Raum immer enger wird und die Wände immer dann, wenn man nicht hinsieht, ein paar Zentimeter näher zu rücken scheinen. Aus dem Augenwinkel heraus mustere ich sie. Warum so nett? Sie ist nicht dick, sie ist fett! (Dieses Wort sage ich mir in Gedanken immer und immer wieder mit einer Genüsslichkeit, dass es spritzt.) Sie sitzt da und starrt viehisch geradeaus und puhlt sich mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen, ohne ihren Mund dabei zu verdecken. Das zum Vorschein gebrachte hält sie sich so nah vor die Nase, dass sie schielen muss; leckt dann die weißfasrigen Brocken wieder vom Holzstocher, schmatzt gemütlich, versucht leise aufzustoßen, was aber wegen ihres voluminösen Korpus trotzdem irre gewaltig klingt und die Sitzbank inklusive mir und Mädchenkörper in Rülpsschwingung versetzt. Sie stinkt nach alter Bratensoße oder Frittierfett, so genau kann man das nicht sagen. Sie gluckst und speichelt stark nach innen ab, das hört man an ihren mühsamen Schluckgeräuschen. Mit jeder Kopfbewegung wippen ihre kurzen, natürlich gelockten Haare. Sie könnten das Schönste an ihr sein, hätte sie sie nicht pechschwarz gefärbt, was in einem zu starken Kontrast zu ihrer blassen, wachsenen Haut steht.
Selbst wenn ich lange darüber nachdenke kann ich mich nicht erinnern, jemals zuvor neben so einem unästhetischen Mädchen gesessen zu haben.


Der Parkplatz gegenüber meiner Wohnung ist in der Nacht hell erleuchtet. Laternen an hohe Masten werfen breite Lichtkegel, daneben grenzt ein Park an. Die Vögel dort reagieren eigenartig auf die nächtliche Lichtverschmutzung, sogar um zwei Uhr Nachts zirpen und zwitschern sie noch, als sei es heller Nachmittag. Das Zwitschern und die Nacht wirken in ihrer Gemeinsamkeit absurd. Die kräftige Selbstverständlichkeit, mit der die Vögel singen, hat eine noch stärkere Wirkung auf mich, als das Licht. Ihr Gesang motiviert mich wach zu bleiben. Obwohl ich schlafen möchte, entscheidet mein Körper beim Zwitschern der Vögel, dass es irgendwie falsch sei jetzt zu schlafen.
Es ist halb Drei.


„Das ist ein moderner Fetisch, ein Mindgame, alles reine Kopfsache.“ Sie bindet sich die blaue Schnur um das Handgelenk und betrachtet es noch eine ganze Weile, bis sie ihren Blick löst und auf den Fluss starrt. „Kommt also darauf an, ob ich daran glaube oder nicht?“, fragt sie den Mann mit dem grauen Mantel. „Ja“, antwortet der Verkäufer. Und sie nickt, breitet die Arme aus und lässt sich von der Brücke fallen.


Die zwei Brotscheiben hat M. auf dem hölzernen Brotzeitbrett symmetrisch jeweils mit der Unterkante der Brotkruste so nebeneinander gelegt, dass sie aussehen wie eine Eizelle in der Telophase der Zellverdopplung. Er redet von Entropie und Thermodynamik, während S. in der Badewanne ein Stockwerk tiefer langsam verbrennt.


Es ist Samstag in der Innenstadt und vor mir demonstrieren Horden aus dem schwarzen Block. Gegen Kapitalismus, gegen Konsumismus und gegen eine Menge weiterer -ismen. Ich trage auch schwarz, aber das ist ein Versehen, wie ich ihm versichere. Der Griff ist streng und er blickt kein einziges mal in meine Richtung, während er mich in den Polizeibus zerrt.


Nachts um eins klingelt das Telefon. Es ist eine Fehlschaltung, man hört Vater und Tochter, die sich unterhalten. Man lauscht eine Weile, mischt sich in das Gespräch ein, Verwunderung an jedem Ende und verabredet sich schließlich auf einen Kaffee oder eine Cola.
Die Telekommunikationsunternehmen schalten willkürlich Gespräche zusammen; es klingelt, es wird abgehoben und ein Fremder antwortet, mindestens genau so unvorbereitet. Es wird aber trotzdem immer noch gerne telefoniert, ein jeder hat zwar eine eigene Telefonnummer, aber die hilft nichts, es wird nur ein ganz anderer erreicht. Es gibt auch einen Störungsdienst. Man kann die Nummer dieses Störungsdienstes wählen, aber man erreicht ihn nie, sondern immer jemand anderen. Es klingelt und irgendjemand ist dran, der einen auch nicht anrufen wollte, sondern selbst angerufen wurde. Menschen, die bei den Telefongesellschaften arbeiten, heißen Kommunikationsvermittler.
(aus “Am Telefon” , Ben, 9 Jahre)

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