Die Bank der Trambahnstation ist blau und kalt und schmal. Der Attentäter sitzt direkt neben R. und liest Koransuren auf seinem iPhone. (R. kann es ganz deutlich aus dem Augenwinkel erkennen. Und dass es sich um einen Attentäter handeln muss, weiß R. aus Fernsehdebatten und, ganz allgemein, den Ankermännern des bundesdeutschen Vorabendprogramms).
Der Mann sieht aus wie ein Attentäter aussehen muss: bärtig, strengläubig, mit einem sehr großen Koffer, alles in allem also sehr islamistisch, das macht ihn wahnsinnig verdächtig. Nur das iPhone in seiner Hand lässt ihn noch verdächtiger erscheinen. (R. überlegt die folgenden sechseinhalb Warteminuten, ob es naiv sei zu glauben, dass islamistische Attentäter streng genommen eigentlich kein iPhone besitzen dürften, schließlich sei dieses Mobiltelefon der Inbegriff westlichen Konsumimperialismus schlechthin. Und gibt es für islamistische Attentäter überhaupt eine App?)
Der Attentäter liest also Koransuren und stellt sich ganz offensichtlich mental auf den bevorstehenden Anschlag ein, während R. nervös auf seinem iPhone den Amazon Wunschzettel durchstöbert, bis er beschließt, das Wartehäuschen zu verlassen. Reine Vorsichtsmaßnahme, versteht sich.
Zwei Meter Luftlinie trennen jetzt Attentäter und R., räumlich ein Katzensprung, kulturell und ideologisch jedoch ein Marianengraben.
Als die Trambahn kommt, steigen beide ein und fahren bis zur nächsten U-Bahn Haltestelle. Widererwarten überlebt R. die darauf folgende U-Bahnfahrt. Glücklich verlässt er am Hauptbahnhof den Wagen, er geht sehr schnell.
Acht Minuten später – R. überquert gerade eine dicht befahrene Straße – erfasst ihn der Kleintransporter des Herrn F. aus Marburg und schleudert ihn gegen einen Betonpfeiler; vier Tage später stirbt R. an dem schweren Schädel-Hirn Trauma, dass er von diesem Unfall davontrug.
Im folgenden Bericht konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob Herr F. aus Marburg zu spät reagierte (wenige Tage zuvor hatte Herr F. ein Transportunternehmen eröffnet und war an diesem Morgen sehr übermüdet in die Stadt gefahren), oder ob R.s Unachtsamkeit zu dem Unfall führte (nach Augenzeugenberichten starrte R., bevor ihn der Kleintransporter erfasste, auf ein Mobiltelefon in seiner Hand, das jedoch nicht gefunden werden konnte.)
Der „Attentäter“, Rosario S., Student der Politikwissenschaft, 4. Semester, las an diesem Morgen eine Biographie über das Leben des Propheten Mohammed auf Wikipedia. Er flog mit der dreckigen Wäsche und ein paar Büchern in seinem Koffer zu seiner Familie nach Berlin.