Samael Falkner hat hier einen, wie ich finde, ziemlich großartigen Text über eine fiktive umgekehrte Flüchtlingssituation geschrieben. Einstiegssätze wie diese klingen wie Korrekturanmerkungen aus dem Deutsch-Leistungskurs, die einen immer etwas minderbemittelt aussehen lassen, weil man aus lauter Angst vor dem erwarteten großen „Aber“ schon nicht mehr gerade sitzen kann. Nichtsdestotrotz: Ist ehrlich gemeint. Danke für die Gedanken. Und schade, dass viele das-Boot-ist-voll Rhetoriker von diesen Überlegungen wohl niemals angestoßen werden.
In meinem Kopf kreist zur Flüchtlingsthematik seit einiger Zeit ein Satz von Karl Valentin durch den Kopf. Anfangs hielt ich diesen Satz für ziemlich dadaistisch, so wie viele Dinge von Karl Valentin dadaistisch daherkommen. Aber in seiner Aussage verbirgt sich eine fucking Zen-Weisheit.
“Fremd ist der Fremde bloß in der Fremde.”
Ich verstehe das so:
Menschen, die in ein fremdes Land kommen beherrschen selten die Sprache und die Codes einer Gesellschaft: kochen ihren Kaffee anders, kleiden sich anders, liegen zu gewissen Uhrzeiten nach einer bestimmten Himmelsrichtung ausgerichtet am Boden und wenn sie sprechen, hört es sich wie Rückwärtsisch an. Das ist die eine Seite am Fremdsein.
Aber wann ist jemand fremd? Welche Schwelle muss Andersartigkeit erreichen, damit jemand fremd ist? Mich interessiert, was das Fremde mit uns macht.
Kommen also Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu uns, erfahre ich vielleicht etwas über deren Kultur. Aber viel interessanter ist doch, dass ich das als Chance nutzen kann, etwas über unseren eigenen Kulturkreis zu erfahren. (Und wenn ich sehe und höre, welche braune Soße da hochsuppt wird mir schlecht.) Welche Werte verbinden uns? Welche Codes befolgen wir? Erst in der Reflexion zum Anderen, also zum Fremden, erkennen wir uns selbst.
“Die Höhe des Kirchturms erkennt man erst, wenn man das Dorf verlassen hat.” Wenn ich also eine ferne, fremde Stadt besuche — je nach geographischem Standpunkt reicht da schon Sossenheim, Schwäbisch Gmünd oder Niederschwaitach aus — lerne ich nicht zwingend etwas neues über die Verhältnisse dort, sondern verstehe viel besser den Ort, von dem ich herkomme.
Eine These: Viele Menschen in der sogenannten freien Welt kommen mit sich selbst und dem Leben um sich herum nicht klar. ((Und natürlich schiele ich da auch zu mir rüber, wenngleich mein Frust nicht in einem Punkt totaler Ablehnung von Fremdartigkeit kulminiert sondern sich andere Wege bahnt.)) Sie wissen, dass irgendetwas nicht stimmt. Eigentlich wollen sie jemand anderes sein, in einem anderen Job arbeiten, eine andere Beziehung führen, einen anderen Körper haben, usw. Sie fühlen sich unterdrückt und überlagert und haben diese Spannungshaltung mächtig sediert. Da gibt es also irgendwo eine tief verborgene Schicht der Ablehnung und des Zorns, so etwas wie unfertige Selbstidentität, was wahnsinnig verschwurbelt klingt, im Grunde jedoch nichts anderes meint, als dass man irgendwann mal aufgehört hat, sich mit sich selbst auseinandergesetzt zu haben.
Und plötzlich stehen dort Menschen, die so ganz anders sind und zu allem Übel auch noch etwas von einem wollen auf der Matte. Und in dieser Fremdartigkeit steckt ein Appell, sich nun mit sich selbst und seiner Situation auseinandersetzen zu müssen. Die widerspenstigen Gefühle für den Straßenbettler kommen nicht daher, dass uns seine Situation so unheimlich berührt, sondern weil wir uns für unseren eigenen Wohlstand schämen.
Angst vor der Fremdartigkeit ist immer auch eine Angst vor Selbstwahrnehmung und dem, was am Ende dabei rauskommt. Angst vor der Fremdartigkeit ist auch eine Angst vor Ent-täuschung. Und das kann etwas gutes sein: eine Täuschung ist dann wortwörtlich weg, entzogen. Wir täuschen uns nicht mehr.
Wenn man das so sieht.
Fremd ist der Fremde also nur so lange, wie wir ihm dieses Fremdsein bereiten. Jemand kommt nicht einfach so dahergelaufen und ist dann fremd. Wir machen ihn oder sie dazu.
Und wenn wir aufhören in Terminologien wie Wirtschaftsflüchtling aus Afghanistan oder Kriegsflüchtling aus Syrien oder Klimaflüchtling aus Afrika zu sprechen und anfangen, diese Fremden als Menschen zu begreifen, kommen wir der Sache mit der Nächstenliebe schon ziemlich nahe.
Wobei: Glaubt hier überhaupt noch irgendjemand daran?