Immer noch Berlin

Samstag, immer noch Berlin.
Der 106er zur Seestrasse, das Mehlstübchen gegenüber, das beiläufige Passieren von Menschen, Zweitakterknattern, Vogelgeträllere, Beobachtungen aus dem zweiten Stock, Leberstrasse 25, die Fenster zum Lüften geöffnet, das Kind rasselt konzentriert auf der Matratze, die Frau ist im Bad, ich trinke den ersten Morgenkaffee und genieße die ersten Morgengedanken, die bei dieser Routine so herauspurzeln. Nach einem einigermaßen anstrengenden Hochzeitstag einer Freundin nun endlich Entspannung. Müdigkeit lässt uns die Knochen klingen.

Morgen fahren wir zurück nach München.

Die Anreise am Tag vor der Hochzeit war eine Tour de Force, zwanzig Minuten hinter der Stadtgrenze: Vollsperrung. (Auch so ein deutsches Wort.) Die folgenden zwei Stunden: gemeinsames Verharren auf bundesdeutscher Asphaltlandschaft. Eine halbe Stunde nach Staubeginn verließen die Menschen ihre Fahrzeuge, irrten mit rudernden Armbewegungen auf und ab oder schritten zwangsentschleunigt durch die Rettungsgasse, während großvolumige Autogeschosse auf der Gegenfahrbahn die Luft maximalverdrängend vor sich her trieben. Eine Mutter saß mit ihrem Kind auf der Standspur, hinter den großen LKWs im Schatten ihrer Planen und alles war kristallen und starr. So sieht also eine Sekunde Autobahn aus, wenn sich nichts bewegt.

Autobahnen sind Orte für Maschinen, nicht für Menschen. Unwillkürlich aufkommende Bilder einer Apokalypse, in meinem Roland Emmerich-Moment sehe ich die Zivilisation auf der Flucht, jäh eingeholt vom Untergang.

Plötzlich allgemeine Nervosität, Umtriebigkeit, als die ersten fernen Gestalten, die man noch am Horizont erkennen konnte in ihre Fahrzeuge stiegen und sich langsam etwas in Bewegung setzte.

Unentschlossener Tröpfelregen begleitete uns ettapenweise den Rest der Fahrt.

Erst also diese Fahrt, dann der Hochzeitstag und nach alles in allem krassen zwei Tagen heute 18 Gänge runterschalten. Plan vom Laufengehen erstmal nach hinten geschoben, wobei ich befürchte, dass ich ihn soweit nach hinten geschoben habe, dass er vom Heute hinten runtergefallen ist. Ein guter Freund fordert „Klettergarten“, was eine insgesamt solide Forderung, aber aus besagten Gangrunterschaltambitionen heute absolut nicht drin ist, so viel steht fest. Stricke die Pläne für diesen Tag bewusst simpel, allerhöchstens Schrebergarten, um dort Begonien, Hyazinthen und vielleicht die ein oder andere Nutzpflanze allgemein, den Himmel aber speziell zu begutachten. Sich mit trivialen Dingen beschäftigen. Triviale Dinge verdienen generell mehr Beachtung. In Berlin z.B. sind meine Haare nach dem Waschen immer sehr weich, das Wasser ist nicht so kalkhaltig wie im Süden. Zumindest ist das meine Erklärung.

Unten auf der Straße stellt sich ein glatzköpfiger Mann, der Bodo oder Helmut oder Hartmut heißen könnte vor unser Auto. Er inspiziert die Zahnbürstenhalter, die mit Saugnäpfen innen an Twingo-Ingos hinteren Scheiben befestigt sind und denkt sich „Sachen gibt’s“ oder er denkt einfach nichts. Er führt sein intensives Kratzen dort, wo keine Haare mehr sind ein paar Minuten fort und wendet sich dann ab.

Gelbe Elektrobusse der BVG fahren vorbei und produzieren ein für die Größe dieses Transportmittels unangemessen filigranes Geräusch, während ich das Gefühl habe, etwas Zeitwidriges dabei zu beobachten, wie es um die Ecke schnurrt. Erinnerung an Aufnahmen der ersten Autos oder der Vorgänger der ersten Autos, schwarz-weiss Aufnahmen von stolzen Männern mit fortschrittlichem Blick, die auf sperrigen Konstruktionen sitzen, welche sie männlich und fortschrittlich mit Kurbeln und Hebeln bedienen; mit denen sie an Apotheken zum Tanken halten und heute, mehr als 100 Jahre später erscheinen sie auf diesen Aufnahmen wie Zeremonienmeister, deren exakte Riten nur noch in Bruchstücken überliefert sind.

In 100 Jahren wird man vielleicht Aufnahmen der gelben Elektrobusse in Berlin sehen und denken, oh Gott, was für eine graue Vorzeit. Oder eben nichts denken.

Der Wind in der Straße vermischt Fetzen menschlicher Laute, Scharniere, Abrollgeräusche, Geklimper, Bellen, Tapsen, Tippeln, Fahrradketten, Bremsen, Hupen zu einem schizophrenen Fauchen der Stadt; Doppelstimmig, Vielstimmig, wie es nur ein solcher Ort hervorbringen kann.

Danke Berlin. Wir sehen uns bald.

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