Die Unvernunft der Unsrigen

I. Tage wie dieser

„Sieben Fuffzig?!”
Der korpulente, über allen Maßen wohlgenährte Mann, dessen Gesicht aufgedunsen vom ungezügelten Konsum ungesunder und fettreicher Nahrung war, musterte ihn mit seinen bösartig dreinblickenden, hinter wulstigen Speckfalten versteckten Augen. Wenn Blicke töten könnten, so wäre Keppler wahrscheinlich auf der Stelle wie ein nasser Sack umgefallen.

„Für sieben Fuffzig bekomme ich anderswo eine ganze Palette Batterien!” Seine Wangen hingen vor lauter Entsetzen über dieses dreiste, ja an Unverschähmtheit grenzende Gebahren seines jungen Gegenübers wie zwei Fleischlappen lose in seinem Gesicht. Keppler kommentierte den anbahnenden Wutanfall des Mannes mit unschuldigem Achselzucken und seinem zur Routine gewordenen freundlichen Mienenspiel. Der stark beleibte Mann wendete auf der Stelle und navigierte seine voluminöse Körperfülle gekonnt und ohne anzuecken durch die etwas eng installierte Sicherheitsbegrenzung, so dass Keppler redlich erstaunt war über das feinmotorische und leichtfüssige Geschick dieser Person. Der Mann stapfte auf eine etwas unglücklich in der Liefereinfahrt geparkte Nobelkarosse mit dem Stern des Westens zu, wuchtete seinen Leib auf den hoffnungslos breitgesessenen Sitz und brauste mit quietschenden Reifen davon.

›Wenn alle zukünftigen Tage, die da noch auf mich warten mögen, so sind, wie dieser hier‹, dachte Keppler für sich, ›dann liegt der schönste Teil bereits hinter mir und ich habe es noch nicht einmal bemerkt.‹ Er schüttelte verständnislos den Kopf, bahnte sich den Weg an einer etwas kleineren, alten Dame vorbei, die mit entgeistertem Blick das Geschehene verfolgt hatte und positionierte sich dort, wo er den ganzen Tag über bereits gestanden hatte. Mitten zwischen Fotoapparaten, Videorekorden, Fernsehern, Waschmaschinen, Staubsaugerbeuteln, vielerlei Haushalts-Brimborium und allerlei Tand und Kitsch wartete er ungeduldig auf das Ende dieses Arbeitstages, das zwar noch in weiter Ferne lag, jedoch mit Sicherheit eintreten würde. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht nicht gleich aber bestimmt bald.

Es regnete in Strömen, als er den Laden verließ. Unter dem kleinen Betonvorsprung, der den Eingangsbereich überspannte, hielt er für ein paar Sekunden inne und war überrascht, als er sich dort nicht alleine wiederfand. Gemeinsam mit ihm wartete, ein wenig Abseits von der schützenden Obhut der Überdachung die neue Kassendame, welche erst an diesem Tage die Arbeit aufgenommen hatte. Sie hielt einen bunt gestreiften Regenschirm fest in ihren Händen, ohne dessen penetrante Farbkombination er sie fast übersehen hätte. Es war eine recht zierliche, junge Dame mit kastanienbraunen Augen, gekleidet in einem langen, grauen Mantel, der nur wenige Zentimeter über dem Boden sein Ende fand. Die Erleichterung über das Ende dieses ersten Arbeitstages stand ihr breit in das Gesicht geschrieben. Mit leicht verzerrter, dennoch freundlicher Miene blinzelte sie ihm entgegen, sagte jedoch kein Wort. Dies entspannte die Situation nicht gerade und er wußte weder ihren Namen, noch ein angemessenes Thema, um dieses unfreiwillige Aufeinandertreffen etwas aufzuheitern.

„Ein Mistwetter ist das, nicht wahr?” sprach er mit fröstelndem Unterton zu ihr. Und er war sich sicher, dass man mit einem persönlichen Urteil über die atmosphärischen Zustände immer ein Gespräch anfangen konnte – egal wie, egal wann, egal mit wem.
„Ja, scheußlich.” entgegnete sie ihm trocken.
„Würden Sie es als anrüchig empfinden, wenn ich sie nach ihrem Namen frage?” Kepplers Etikette glänzte hie und da durch eine überspitzt wirkende Form der Höflichkeit, die er selbst, wie auch viele der anderen Menschen in seinem Umfeld aber nie als störend empfanden. An dem etwas suspekt dreinblickenden Ausdruck der jungen Dame konnte er recht schnell feststellen, dass dies auf sein momentanes Gegenüber leider nicht zutraf.
„Gesine. Gesine Heidenstedt. Mit ‚dt‘ und ohne ‚ä‘.”
„Hm, soso. Gesine, Gesine Heidenstedt. Mit ‚dt‘ und ohne ‚ä‘?” wiederholte Keppler.
„Ja, wieso? Gefällt ihnen der Name nicht?”
„Oh nein, wo denken sie hin! Sicherlich, ein nicht besonders weitläufig verbreiter Name. Dennoch ein recht wohlklingender.” Keppler log, das er bereits das Ächzen der sich biegenden Balken hörte. „Es verhält sich nur so, dass dieser Name mich entfernt an jemanden erinnert. Aber das ist schon lange her.” Seine Grundschullehrerin in der ersten Klasse hieß so, ihr Vorname war jedoch ein anderer. Für einen Moment war Stille eingekehrt. Keppler starrte in den mit schweren und grautrüben Regenwolken verhangenen Himmel, Gesine auf den Boden. „Warten sie schon recht lange hier?” griff Keppler das Gespräch wieder auf.
„Nö, nicht die Welt. Keine viertel Stunde wird es her sein, als ich den Kassenabschluß machte.”
„Und darf ich auch fragen, auf wen sie hier warten? Wohl bestimmt nicht auf das Ende des Regens, denn sie haben da ja einen, wie soll ich sagen, gar fulminant farbenfrohen Schirm, der ihnen das Nass von der Stirn hält.”
„Nein, das Ende des Regens ist es nicht, das auf sich warten lässt. Es ist mein Freund, der sich mal wieder verspätet.” Sie tippelte mit ihren farblosen Fingernägeln auf den Holzschaft des Regenschirmes und warf ihrer Armbanduhr einen mies dreinblickenden, ungeduldigen, ja geradezu herabwürdigenden Blick zu.
„Dieses ‚mal wieder‘ zeugt ja nicht gerade von strikter Pünktlichkeit.” rekapitulierte Keppler.
„Wenn es nur die Pünktlichkeit wäre, dann wäre ich ja schon froh drum.”
„Keine schöne Beziehung also?”
„Es lebt sich so lala. Man arrangiert sich halt so gut es geht.”
In diesem Moment brauste ein violett-blauer Kleinwagen mit überhöhter Geschwindigkeit auf den leer stehenden Parkplatz, wendete um 180 Grad und kam direkt vor dem Eingang zum stehen. Gesine faltete ihren Regenschirm zusammen und öffnete die Beifahrertür. Hinter dem Steuerrad lugte ein junger, sportlich wirkender Mann hervor, der sichtlich mit der Hetze und Eile der letzten Minuten ringte.
„Hallo Schatzimausi, tut mir ganz, ganz leid, aber ich…”
„Ja, ja, ist schon gut.” Gesine unterbrach ihn mürrisch.

Sie stieg grummelnd in das Fahrzeug ein, ersparte sich jedoch den weiterführenden Kommentar, der die gutgemeinten und allesamt liebevollen Über-zeugungsversuche ihres Partners vielleicht in einen fauchenden Diskurs und damit in eine tiefgreifende Diskussion verwandelt hätte. Gerade wollte sie die Türe zuschlagen, als sie noch für einen Moment zögerte.
„Können wir sie vielleicht ein Stück mitnehmen?”
„Nein, nein. Ist schon in Ordnung.” entgegnete Keppler hastig. „Ich habs nicht weit bis zur S-Bahn. Außerdem ist Regen gut für den Teint und solange er nicht sauer auf uns ist, versuche ich, ihn zu genießen.”
„Na, dann eben nicht. Aber eine Frage müssen sie mir noch beantworten. Wie heißen sie eigentlich?”
„Ich?” Ein wenig verdutzt war er schon über diese Frage, denn es war gewiss eine ganze Weile her, dass sich jemand für ihn interessierte und direkt ansprach. Und wann das letzte Mal darüber hinaus noch jemand seinen Namen von ihm wissen wollte, an das konnte er sich bei Leibe nicht mehr entsinnen.
„Mein Name ist Keppler, Kurt Keppler. Mit doppeltem ‚p‘ und ohne stummes ‚h‘. Oder einfach nur Kurt. Meine Freunde nennen mich so.” Das war die zweite Lüge, denn Keppler hatte keine Freunde.

Der agile Kleinwagen zischte, nachdem Gesine ihm noch einen schönen Feierabend und ein noch schöneres Wochenende gewunschen hatte davon und war bereits kurz darauf hinter den grauen Blockbauten des Gewerbegebietes, eine in Beton gegossene Tristesse verschwunden. So stand er wieder alleine für sich und blickte den Regentropfen zu, wie sie auf die Erde plätscherten und dort in ihren Pfützen das Spiegelbild dieser Welt verzerrten. ›Dass muß wohl wahre Liebe sein‹, dachte er sich mit einem leichten Anflug an Selbstgefälligkeit. Eine ganze Weile konnte er sich noch über die zwei amüsieren. Jedoch endete diese kurzzeitige Fröhlichkeit aprupt, als ihm bewußt wurde, dass Keppler keiner abholen würde. Keiner, der ihm verständlich machte, warum er sich verspätet hatte. Keiner, der bittend um Verzeihung ihm gestehen würde, dass es ihm leid täte, ihn hier im Regen stehen zu lassen. Keppler wurde traurig. Gerne würde er im Regen stehen bleiben, wenn in ihm die Gewissheit schlummern würde, dass da noch jemand ist, der an ihn denkt. Aber das tat keiner. Und bevor ihn seine Gedanken in das öde Gefängnis der selbstbemitleidenden Melancholie sperrten, trat er lieber den Heimweg an.

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