Weil dieses Jahr so langweilig – langweiliglangweiliglangweilig und achgewöhnlich begann, dachte ich mir: Geh mal zum Zahnarzt, tu dir selbst was gutes und lass dir zur Feier dieses noch recht jungen 2010 so eine richtig schöne Wurzelbehandlung verpassen. (An das Geschriebene „2010“ muss ich mich erst noch gewöhnen. Ich sag derweil „zwanzig-zehn„, das kenne ich schließlich noch aus 2003.)
Also: Andere Leute kaufen sich teure Wässerchen und Anzüge, Brioni und Barbour. Und ich, ich leiste mir halt eine gute Zahnbehandlung mit ordentlich Selbstzuzahlung, die Krankenkasse meint nämlich, ich hätte die von mir gewünschte Behandlungsmethode gar nicht nötig. Sagt sie, also die Krankenkasse. Meine Zahnwurzel sagt da etwas anderes. Aber egal, ich will da jetzt nicht kleinlich sein.
Rechne für diesen Tag also mit maximalen Schmerzen. Solche ich-weiß-dass-ich-später-noch-zum-Zahnarzt-muss-und-es-könnte-eventuell-ziemlich-weh-tun Tage beginnen häufig mit allgemeinen Unbehagen, Magenschmerzen, feuchten Händen, etc. Schütte also eine zähnelockernde Menge Kaffee in mich hinein und brabble los wie ein Heilbutt auf Phentermin. Bravouröser Dienstagnachmittag. (Das mit dem Kaffee rächt sich später, auf dem Stuhl, als meine Anspannung wächst und so unverschämt stark auf die Blase drückt, dass ich mir gleich noch eine zweite Lokalanästhesie verpassen lasse.)
Auf dem Weg zum Zahnarzt, ich bin bereits sehr angespannt, eine unzumutbare 1A Verklemmtheit auf zwei Beinen sozusagen, sorgt Springers Großbuchstabenpresse zumindest für kurzzeitige Ablenkung. Mich amüsiert die abgeschmackte Majuskelprotzerei dieser Zeitung. Da arbeiten nämlich wirklich viele Menschen die wirklich viel Resthirn zusammenkratzen, um sich diese Titel auszudenken. Aufgrund koffeininduzierter Hibbeligkeit bekomme ich die Schlagzeile diesmal jedoch nur mit einem halben Auge mit, gut möglich, dass sie gar nicht so lautete.
„Experte warnt Eltern: Christkind – Kinder sollen Wahrheit erfahren.“
Ich versuche es zwei mal, begreife es aber nicht; wahrscheinlich vermag ich den dargebotenen Bedeutungstiefgang aufgrund Schmerzerwartungsherbeigeführter innerer Umtriebigkeit nicht in seinem vollsten Tiefgang auszuloten. Vielleicht verursacht laut Experten die Entmystifizierung solch kindlicher Illusionen wie z.B. Osterhase, Weihnachtsmann und die Einschläferung Benjamin Blümchens diverse Rissbildungen im präpubertären Oberstübchen, ich weiß es nicht. Und ganz unter uns: Es ist mir auch egal.
Beim Zahnarzt angekommen lege ich mich auf den Stuhl, das Gespräch ist knapp. Dann wird es auch gleich etwas sexuell. Der Silikonschutz in meinem Mund, der mein Gebiss weit auseinanderspreizt ist so SM, dass ich mich geniert fühlen würde, wäre er nicht blau sondern schwarz. Ich sehe mein Spiegelbild ganz klein und verzerrt im Schirm der Lampe über mir und was ich sehe ist bizarr, denn dort liegt etwas Degeneriertes mit Riesenkopf und Zwergenfüßen, das entfernt an eine dieser Gummipuppen für die männliche Triebabfuhr aussieht. Oder wie Munchs „Der Schrei“, Version zwanzig-zehn, „Beim Zahnarzt“.
Die Behandlung beginnt und ich suche mir einen Punkt an der Decke, den ich von jetzt an die nächsten zwei Stunden nicht mehr aus den Augen lassen werde. Irgendetwas riecht nach Chlor, was mich witzigerweise beruhigt. Meine Eltern leiteten in den 80ern jeweils für ein paar Wochen im Sommer eine Gaststätte in einem Freibad. Als Kind verbrachte ich dort jeden Tag, aß mit Fingern Pommes aus ketchupdurchweichten Papiertüten, lag in der Sonne, ging schwimmen, spielte bei den Eltern in der Gaststätte, Geborgenheit, das Freibad als Lebensprinzip. Seit dieser Zeit hat Chlorgeruch eine eigenartig beruhigende Wirkung auf mich. Die anderen Gerüche während der Behandlung sind allerdings nicht minder interessant. So riecht es später zum Beispiel einmal nach Croissants, als dünne heiße Stifte in mein Zahnfleisch gesteckt werden. Ich spüre davon nichts, ich rieche es bloß. Eigenartig, wenn etwas verführerisch gut duftet und man erst später merkt, dass es das eigene kokelnde Fleisch war.
Der Arzt meint es gut, er spritzt meine halbes Gesicht taub, so hoch ist die Dosis. Fazialmuskulär ist damit halbseitig für den Rest des Tages Schicht im Schacht. (Später wird meine Freundin bei dem Versuch, mich anständig zu küssen behaupten, es fühle sich an wie ein Stück Putenfleisch, bloß wärmer; oder wie ein Marshmallow, bloß weniger süß.)
Die Behandlung zieht sich, fast wird es langweilig. Ich warte auf den Schmerz. Er kommt spät. Aber dann ist er da und unmissverständlich und gewaltig. Dann umarme ich ihn, spendiere ihm ein warmes Hallo. Ich meine, ich freue mich nicht, dass er da ist; ich sage nicht: „Hey Schmerz, schön dass du da bist, komm, machen wir uns einen tollen Nachmittag.“ Ich würde wirklich lieber gerne ohne ihn auskommen, diesen alten Wichser. Aber wo er schon mal da ist, kann ich ja eine Runde mit ihm um den Block drehen. So aus Seltbsterfahrungsgründen versteht sich.
Schmerz gehört doch irgendwie zum Leben dazu. Er zeigt einem unmissverständlich, dass man am Leben ist. Zwischenzeitlich gibt es immer wieder abwechselnd langanhaltendende Phasen der Schmerzfreiheit. Aber früher oder später ist er wieder da. Also stellt man sich besser schon mal darauf ein.
Ich bin kein Masochist, ich fahr nicht ab auf Schmerzen. Aber heute beim Zahnarzt, da bietet sich mir das bunte breite Schmerzspektrum. Ich fühle mich in den Schmerz hinein, wenn ich ihm schon nicht ausweichen kann; versuche ihn zu erkunden, ihm nachzufolgen. Und dabei erkenne ich mehrere Abstufungen.
1) Der Pochende, dumpf Pulsierende. Dabei ist eine ganze Fläche betroffen, der Schmerz strahlt, er hat eine „Aura“, ähnlich der Kälte, die Menschen ausstrahlen, wenn es Winter ist und sie durchgefroren in die U-Bahn steigen. Ein weiterer Reiz innerhalb dieser Aura wird nur dann registriert, wenn dieser neue Schmerzimpuls größer ist, als der bereits bestehende. Diese Schmerzaura baut sich langsam auf und irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem es viel zusätzlichen Schmerzes bedarf, damit dieser überhaupt noch hervortritt. Irgendwo steht bestimmt etwas ganz schlaues darüber, Anhebung der Schmerztoleranzgrenze, oder so etwas in der Art.
2) Der Kriechende, kurz Stechende. Er ist aber nicht von Dauer und in einer Intensität, die noch auszuhalten ist. Dabei entsteht ein Reiz, der Nerv ist „genervt“, er beschwert sich noch eine Zeit, pulst nach, vielleicht 20, 30 Sekunden, dann schwillt er wieder ab. Er bleibt nicht, er strahlt nicht.
3) Das ist die Königsklasse, die Formel-1 der Schmerzreize. Ganz kurz, ganz heftig. Meist als letzte Steigerung zu Schmerz #2, sozusagen dessen i-Tüpfelchen. Der Schmerz baut sich also auf, langsam und immer drängender und dann erreicht er ein Spitze, die einen wie ein Hammer trifft. Die genaue Herkunft ist schon nicht mehr zu lokalisieren, er ist irgendwie omnipräsent. Man kneift die Augen zusammen, legt die Stirn in Falten, allüberall Anspannung; die Atmung beschleunigt sich, der Körper verkrampft sich, alles sticht und kribbelt. Das ist diese eine Sekunde kurz bevor man wirklich laut losschreien würde. Aber auch diesen Schmerz kann man fokussieren, wenn auch nur für kurze Zeit.
Als ich dort auf dem Stuhl lag, konfrontiert mit mehr oder weniger fröhlichkeitsstiftenden Schmerzschattierungen wurde mir bewusst, wie sehr mir bei der Schmerzbewältigung die Erfahrungen aus dem Laufen helfen. Laufen kann so viel mehr für einen tun, nicht nur bloße Verbesserung des Selbstwertgefühles durch Gewichtsabnahme und Konditionsverbesserung. Ich kann mich besser auf einen Schmerz fokussieren, gehe mit ihm. Das hört sich vielleicht Schizophren an aber ich laufe dort beim Zahnarzt in Gedanken eine Strecke.
Wenn nach 15 Kilometern, noch ein, zwei, drei Kilometer zu absolvieren sind, die Schuhe reiben, Knie schmerzen, Waden sich verkrampfen und Schweiß in die Augen läuft, dann subsumieren sich die körperlichen Strapazen in einen mentalen Bewältigungsprozess. Durchhalten, aushalten, weitermachen. Das lernt man beim Laufen. Den Willen bündeln.
Genug Selbsterkenntnis. Als alles vorbei ist, fühle ich mich eigentlich ganz gut, bloß ein wenig gaga. Trinken geht auch zwei Stunden nach der Behandlung noch nicht richtig, ich kann die Lippen nicht genügend spitzen. Was ich mit dem Strohalm in meinen Mund befördere, droht halbseitig wieder heraus zu fließen; beim Essen bewegt sich nur die eine Hälfte der Gesichtsmuskeln, was ziemlich bescheuert aussieht. Später kaufe ich meiner Freundin noch ein Paar Rosen, es ist Abend und unser Zweijähriges. Als ich ihr die Blumen überreich konzentriere ich mich wirklich, aber ausser einem „Iff liebe diff!“ bekomme ich nichts anständiges heraus. Sie lacht und nimmt mich an der Hand, zu sich nach Hause und versorgt und pflegt mich mütterlich.
Auf Wiedersehen, Schmerz. Kann zwar nicht sagen, dass es schön war mit dir, aber wir werden uns wiedersehen.