Das zieht sich aber Über Periscope und allzu menschliche Langeweile

Plötzlich zwitschert das iPad. Das macht es selten. Wenn ich ehrlich bin: nie. Die „Bitte nicht stören“-Funktion hielt ich von Anfang an für die beste Funktion an diesem Tablet. Taucht der kleine Halbmond oben rechts im Display auf, wird es ruhig. Keine Push-Benachrichtigungen, keine Töne, kein Vibrieren. Nichts kommt durch, was meine Aufmerksamkeit fressen will.

Jetzt aber zwitschert das iPad. Ich habe es von seinem Maulkorb befreit, nur um zu kucken, was passiert. Twitter meldet sich sofort. In Barcelona ist vor ein paar Minuten ein Auto in eine Menschenmenge gerast. Kurze Zeit darauf, Periscope. Eine Frau aus Zwickau streamt die Nachrichten von ihrem Fernseher ab. Es läuft N24. Und in den Nachrichten von N24 läuft ein Stream von jemandem, der mit seinem Handy auf den Straßen von Barcelona die aktuellen Ereignisse filmt. Man hört die Sirenen der Krankenwägen, den nuschelnden Reporter im Studio, die streamende Frau aus Zwickau, die von ihren Sorgen über eine Freundin erzählt, die in Barcelona lebt und ich denke alles in allem: krass.

Also krass, nicht wegen der Vorfälle in Barcelona. Die sind tragisch, egal von welcher Seite man es betrachtet. Sondern krass, über wie viele in sich verschachtelte Ebenen diese Information mich erreicht. Spiele mit dem Gedanken, mit Periscope auf meinem iPhone das Display meines Tablets abzufilmen, auf dem Periscope läuft und eine Frau zeigt, die in Zwickau sitzt und mit Periscope ihren Fernseher abfilmt, auf dem eine Nachrichtensendung läuft, die den Stream von jemandem zeigt, der auf den Straßen Barcelonas unterwegs ist. Und dann kollabiert das Universum.

Periscopes Startbildschirm, Seitenhieb auf Trumps Einwanderungspolitik
Periscopes Startbildschirm, Seitenhieb auf Trumps Einwanderungspolitik

Über Persicope kann ich nicht viel sagen, ausser, dass es mich fasziniert. Jan Böhmermann hatte über die App die Hashtagkonferenz seiner Redaktion zu Schulz & Böhmermann gestreamt. Fand ich super. Das Attentat in München ließ über Periscope meine Hosentasche vibrieren, quasi in der Minute, als es geschah. Innerhalb der nächsten Stunde ersoff die gesamte Stadt dann am kakophonischen Medienecho. Die Redaktion von heute plus macht ihre Sache auf Periscope auch nicht schlecht, wie ich finde. Hübsche junge Journalisten, die einwandfreie Haupt- und Nebensätze formulieren, G20 in Hamburg, direkt am Brennpunkt, alles so unverbraucht und eloquent. Toll.

In der letzten Zeit habe ich die App allerdings nicht mehr viel benutzt, ich behielt sie als eine Spielwiese für Experimentierfreudige in Erinnerung. Bis zu diesem Tag mit Barcelona und der Frau in Zwickau, als ich, nachdem alles zu dem Thema und für den Augenblick gesagt war, die Liste mit den europäischen Livestreams durchging. Mir war langweilig, zappte in fremde Wohnungen und sah gelangweilten Menschen zu, die sich in ihrer Langeweile selbst filmten. Natürlich waren da auch andere, die pfiffen oder hüpften oder ein Instrument spielten, rauchten und sich gleichzeitig die Haare föhnten. Was eine insgesamt ziemlich dämliche Angelegenheit ist. Beeindruckend, wie viele es dennoch machen. Zwei besondere Themen zogen sich jedoch wie ein roter Faden durch die paneuropäische Langeweile:

  1. Gelangweilte junge Streamerinnen, die quasi im Akkord hochnotpeinliche Anbaggerungsversuche von Heteroproleten abschütteln mussten, so hochnotpeinlich, dass ich mich genierte, Angehöriger dieser Spezies zu sein.
  2. Gelangweilte Männer auf „Arbeit“, mit Augenringen so wulstig, als wären sie die Horst Tapperts der Nachtschicht, stillstehende Gepäckbänder im Hintergrund, eines Flughafens vielleicht, die exakt eines machten: nichts.

Die Mehrheit saß also überwiegend friedlich und gelangweilt einfach nur da und filmte sich selbst, hörte Musik, kaute Kaugummi. Die aktuelle Followerzahl, die unten eingeblendet wurde schwankte häufig zwischen 1 und 3 Zuschauern. Ich fragte mich, wer das wohl ist, der jetzt in diesem Augenblick irgendwo auf dieser Welt sitzt und mit mir gemeinsam diesem Menschen in, sagen wir, z.B. Oslo zuschaut, wie der sich langweilt. Großartig! Ein einziges weltumspannendes „Warten auf Godot“.

Jemand meinte mal, dass Periscope „schlimmer als Fernsehen“ sei. Das stimmt nicht. Fernsehen, das macht einem ständig etwas vor, ist permanente Fassade. Ausser vielleicht Tierdokus oder Space Night. Auf Periscope kann man ungefiltert der menschlichen Langeweile zusehen, wenn man das will. Das ist in etwa so beruhigend wie einem Heizkörper zuzusehen, der warm wird. Natürlich dreht einem die so überschwänglich empfangbare Langeweile bald die Zehennägel auf. Dann schaltet man halt zur nächsten gelangweilten Seele. Schließlich ist jeder in seiner Langeweile einzigartig.

Periscope – Download für iOS und Android.


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