Fremdkörper

Dasein und doch nicht. Ein Mann, eine Frau, Liebe und ein Traum - eine Suade der Sehnsucht, ein Lobgesang an das Nichts.

Der Morgen war lau. Ich hatte mal wieder schlecht geträumt. Ein verrückter Porno in meinem Kopf. Zwiespältige Situationen, Gewalt, Hardcore, Blut und tote Menschen, kranker Scheiss. Ich saß auf der Bettkante und war noch nicht ganz im hier, die Klarheit des heraufziehenden Tages war noch nicht ganz bei mir. Gesenkter Kopf von Hand gestützt, die Finger im Haaransatz vergraben. Mein Blick ruhte auf dem Zeitnehmer an der Wand und führte doch ins Leere. Halbundhalbwahrheiten in meinem Verstand.

Wieder zurück auf Erden ging ich ins Bad. Wasserlassen. Natürlich, muss man. Zähneputzen im Angesicht des großartigsten Lügners, dem du an jedem Tag deines Lebens begegnest. Unrasiert und fahl, in lebenslustlosem Weiß, Büroalltagbleich.

Nachdem ich aufstand meinte ich, mein Schatten sei liegen geblieben. Es gibt Tage, da bin ich glashell, durchlässig und fein wie Pergament. Dann durchfließt mich Licht ohne Widerstand; ungehindert, wie durch das dünne Häutchen zwischen Zeigefinger und abgespreiztem Daumen, wenn man es direkt in den Schein einer starken Lampe hält. Draussen regnete es seit gestern.

Die Kälte der Küchenfließen kitzelte an meinen Fußsohlen, ließ mich Zehenspitzenhüpfend von einer Kachel zur nächsten balancieren. Verkannt und abgebrannt stand ich in Shorts vor dem geöffneten Kühlschrank. Die Milch war alt. Sie wollte letzte Woche schon gewechselt werden. Sie wollte genau so gewechselt werden wie das defekte Kühlschranklicht, die defekte Kaffeemaschine und überhaupt eine Menge anderer Dinge. Frustration zieht sich, sie trieft langsam. Montagssirupsorgen.

Als es an der Tür klingelte, war mir nicht wohl. Mein Sinn stand mir nicht nach Gesellschaft. Zu früh, nicht jetzt. Annika stand draussen, durch die Gegensprechanlage hörte ich sie niesen. Wie konnte ich sie vergessen? Schlüssellos im Regen.

Nass und aufgebracht sah sie sinnraubend attraktiv aus, das fiel mir jetzt das erste mal auf. Ich reichte ihr ein Handtuch und tröstete sie mit einer heissen Tasse Instant-Kaffee. Ohne Milch. Die war ja alt.

“Dieser alte Sack vor mir in der Bäckerei.”
Sie knallte die Tüte mit den Semmeln auf den Tisch.
“Was war los?”, fragte ich.
“Glaubt doch allen ernstes, er müsse mit der Verkäuferin eine Grundsatzdiskussion über genverändertes Getreide führen. Wo der Laden doch gerammelt voll war. Endspeinlich.”
Mein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Ich sollte Zustimmung zeigen, zumindest. Statt dessen erlosch nur ein müdes Lächeln in meinen Mundwinkeln.

“Du hast wieder schlecht geträumt, oder?” Annika blickte mich fragend an. Ich nickte. “Und von was hast du geträumt?”
“Von einer Parade durch unseren Garten. Die Menschen waren nicht glücklich, sie hassten. Einer brach zusammen, ich wollte ihm helfen, musste irgendwas an seinem Rückenmark operieren. Die anderen ließen mich nicht und vertrieben mich, bewarfen mich mit Steinen. Er starb, ich floh.”
“War das alles?”
“Nein. Aber ich will nicht weiter…”
“Komm schon, raus damit!”
“Weltuntergang. Es war Weltungergang.”
Annika hob ihre rechte Augenbraue und der dünne Haarstreifen verformte sich zu einer geschwungenen Welle leisen Bedenkens. “Kommt das öfter vor?”
“Oft. Nicht jeden Tag. Aber oft.”
“Und wie… geht… die Welt in deinem Traum unter?”
“Juli.”
“Was?!” Annika schien nun vollends verwirrt und so entwickelte ich ihr meine Gedanken.
“Es ist ein früher Sommerabend im Juli, als die Welt untergeht. Es ist hell aber die Sonne ist schwarz. Ein schwarzes Sonnenloch droht am Himmelszenit. Es ist das Ende der Welt, jeder weiß es. Die Menschheit versinkt im Chaos. Ich trete auf die Veranda, bin ganz ruhig und voller Erwartung. Die Wolken am glutrot gefärbtem Himmel stieben auseinander und eine gewaltige Feuerwalze rollt vom Horizont heran. Es ist das Ende der Welt, so wie wir sie kennen. Und ich fühle mich gut.”

Meine Stirn warf tiefe Falten, der Blick verirrt im haltlosen Nichts.
“Du siehst nicht gut aus. Komm her.” Sie zog mich zu sich und presste ihre Lippen an mein Ohr. “Sei ohne Sorgen, nicht denken.”, und das erste «S» zischelte sie so spitz und leise in meine Gehörmuschel, dass es mich kitzelte. Für einen kurzen Moment schauderte ich, dann drückte Annika ihren Körper eng an meinen. Ich spürte ihre festen Brüste, mein Herz schlug bis zum Hals. Und als würde sie versuchen, mir eine altbekannte Lebenslehre verständlich machen zu wollen, wiederholte sie die letzten zwei Wörter noch einmal ganz langsam und tippte dabei mit ihrem Finger auf meine Nasenspitze. “Nicht denken.” Durch die Wärme ihres Leibes merkte ich erst, wie kalt ich war. Ihre jugendliche Hitze züngelte um meine Fingerspitzen, als ich mit ihnen sanfte Muster auf ihrer weichen Haut beschrieb. Wie ergaben uns der Begierde. Körperschreie in der Küche.

Ihre Augen waren tausend Ozeane tief. Als sie ging blieb ich zurück. Verbluten in Einsamkeit. Das war immer so, wenn sie weg war. Der Tag verstreicht, vergeht. Die Schatten im Zimmer wandern, sie biegen, krümmen, strecken sich von einer Wand zur nächsten. Der Raum geht.

Vier-Wände Dasein, von ausserhalb hineingeblickt. Manchmal kann sich Leben verdammt fremd anfühlen. Und jetzt, erst im Nachhinein erfasste ich den Gedanken, der mich zunächst erschrak, der nun aber wie ein blasses Echo aus dem Traum nachklang, als ich dort auf der Veranda stand und befreit von aller Last mit gedankenloser Leichtigkeit dem Ende allen Seins entgegen blickte – und mich gut fühlte, als wir zu Staub zerfielen.

Stehend am Rande, lauschend dem Knarzen des Weltengangs. Heute klar die Liebe vom Himmel scheint, morgen die Leere der Weite weint. Mich gibt es nicht.

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